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„Führungsqualitäten bedeuten nicht, alles zu wissen, sondern zu wissen, wen man fragen muss“ – Interreligiöse G20-Führungskräfte beraten über Coronavirus
Die Coronavirus-Pandemie hat die Welt bis ins Mark erschüttert. Die Gesundheitssysteme sind an ihre Grenzen gestoßen, die globalen Wirtschaftsmärkte befinden sich in einer Abwärtsspirale und die Ungleichheit hat sich vertieft. Die Schwächsten der Gesellschaft sind dabei am härtesten betroffen.
Auf der ganzen Welt haben sich Fachleute aus den Wirtschaftswissenschaften und der Epidemiologie versammelt, um Lösungen für die vielen Herausforderungen zu erarbeiten. Welche Rolle können religiöse Führerinnen und Führer dabei spielen?
Geistlicher Trost ist eines der Angebote der Religion und zweifellos etwas, das angesichts der aktuellen Angst und des allgegenwärtigen Gefühls der Sterblichkeit dringend benötigt wird. Fachleute argumentieren jedoch, dass religiöse Organisationen über geistliche Angelegenheiten hinausgehen sollten, um gezielt Hilfe zu leisten, die die Kluft zwischen den göttlichen und den eher irdischen, humanitären Anliegen schließt.
In dieser Woche kommen religiöse Führerinnen und Führer sowie Politikerinnen und Politiker aus der ganzen Welt zum Interreligiösen G20-Forum, um zu erörtern, wie Glaubensgemeinschaften in dieser lang anhaltenden Krisenzeit unterstützt und mobilisiert werden können.
Lösungen erarbeiten und umsetzen
Herausragende Persönlichkeiten nutzen diese globale Plattform, um die größten Probleme zu diskutieren, mit denen die Menschheit aktuell konfrontiert ist. Sie werden Lösungen erarbeiten und nach Wegen suchen, wie die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs) durch gemeinsames Handeln erreicht werden können. Seit mehreren Jahren arbeitet KAICIID eng mit dem Interreligiösen Forum zusammen. Beide haben einen ähnlichen Auftrag, nämlich die Förderung des Dialogs und der Zusammenarbeit zwischen religiösen Führerinnen und Führern sowie Politikerinnen und Politikern zu den dringendsten Fragen der humanitären Entwicklung.
Amjad Saleem, Experte für Friedensförderung, interreligiöses Engagement und humanitäre Politik, unterteilt die Infrastruktur religiöser Institutionen in zwei Elemente: die "Hardware" und die "Software" der Religion.
Ersteres bezieht sich auf die Stätten religiöser Gemeinschaften, von formellen Gebetsorten wie Kirchen, Moscheen und Tempeln bis hin zu Wohlfahrtszentren und Schulen. Die "Software"-Komponente umfasst die wichtige Rolle, die religiöse Persönlichkeiten im Leben von Millionen Menschen spielen. Sie ist zwar immateriell, aber nicht weniger real. Beide Elemente bieten große Möglichkeiten für die Bewältigung der Krise.
„Es gibt institutionelle Arbeitsweisen, die für das Engagement in den Gemeinschaften sorgen. Religiöse Institutionen geben Initiativen viel Raum. Es sind Bereiche des Vertrauens. Sie dienen als Zentrum für die Mobilisierung der Gemeinschaft“, so Saleem.
Diese Dynamik ist nichts Neues, sagt Dr. Mark Owen, Generalsekretär des Europäischen Rates der Religionsführer. Solche Infrastrukturen sind seit langem vorhanden und werden auch oft genutzt.
„Die Wahrheit ist, dass religiöse Strukturen dies schon seit hunderten, wenn nicht tausenden Jahren tun. Sie haben schon immer eine wichtige Rolle gespielt, nicht nur bei der Unterstützung der Menschen in ihrer religiösen und spirituellen Entwicklung, sondern auch bei sozioökonomischen Problemen, Gesundheitsfragen und bei der Lösung von Konflikten.“
Religiöse Institutionen können so in die öffentliche Gesundheitsversorgung, Hunger- sowie Armutsbekämpfung miteinbezogen werden. Bei regelmäßigen Versammlungen in den Gemeinschaften können zum Beispiel Blutspendenaktionen oder Gesundheitsuntersuchungen erfolgen.
Gebetsräume bieten seit langem Platz für Flüchtlinge, eine Gruppe, die von der Pandemie schwer betroffen ist. Die "Hardware" einer Moschee oder Kirche stellt einen verlässlichen Bereich dar, um Vertriebene, Migrantinnen und Migranten ohne Papiere sowie andere gefährdete Gemeinschaften zu erreichen und sie dann mit medizinischer und anderer Unterstützung zu versorgen.
Zugang zu Menschen vor Ort
Sobald die Beteiligung von religiösen Führerinnen und Führern sichergestellt ist, bietet die "Software" der Religion Politikerinnen und Politikern einfacheren Zugang zu den Gemeinschaften vor Ort. Religiöse Persönlichkeiten verfügen vielleicht nicht über das spezifische Wissen oder die detaillierte Erfahrung in der Wirtschafts- oder Gesundheitspolitik. Ihre Stärken liegen aber darin, dass sie Verbindungen herstellen können, ihre Gemeinschaften gut kennen und die richtigen Verbindungen innerhalb dieser haben.
„Führungsqualitäten bedeuten nicht, alles zu wissen, sondern zu wissen, wen man fragen muss“, meint Saleem. „Religiöse Führerinnen und Führer sind vertrauenswürdige Menschen, eingebettet in die Gemeinschaft und die lokale Politik. Ich sehe das immer als eine Gelegenheit, religiöse Führerinnen und Führer zu mobilisieren, sei es aus humanitären Gründen oder im Bemühen um den Aufbau von Beziehungen zwischen den Gemeinschaften.“
„Wenn man wirklich einen Plan für den wirtschaftlichen Aufschwung haben will, muss die lokale Bevölkerung einbezogen werden. Religiöse Führerinnen und Führer haben Zugang zu Menschen, die in der Lage sein könnten, Unterstützung zu leisten.“
Neben dem Bauen von Brücken zu lokalen Gemeinschaften können religiöse Führerinnen und Führer auch mit Regierungen und Vertreterinnen und Vertretern internationaler Finanzinstitutionen zusammenarbeiten. Sie helfen den genannten, lebenswichtige Ressourcen bereitzustellen, die das Leiden der Bevölkerung lindern könnten.
„Ich glaube, ihre wichtigste Aufgabe ist es, Fürsprachearbeit zu leisten und Regierungen zu überzeugen, dass die Menschen in diesen schwierigen Zeiten Unterstützung brauchen“, meint Owen. „Es ist wirklich wichtig, dass religiöse Persönlichkeiten der Gesellschaft als Stimme des Gewissens dienen und auf die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die Lebensgrundlagen der Menschen aufmerksam machen.“
Das Coronavirus hat strukturelle Ungleichheiten offengelegt, die in der Gesellschaft zwar bereits bestanden, von denen ethnische Minderheiten und ärmere Gemeinden jedoch noch schlimmer betroffen sind.
Einige leben in beengten Wohnverhältnissen, die soziale Distanzierung unmöglich machen. Andere haben aufgrund von Sprachbarrieren nur begrenzte Informationen zum Zustand der öffentlichen Gesundheit erhalten. Die Arbeit an vorderster Front im Transport- oder Gesundheitswesen, oft ohne angemessene Ausrüstung, erhöht den Druck auf die Menschen noch weiter.
Die Eingliederung der Marginalisierten in die Gesellschaft steht im Zentrum der religiösen Bemühungen. Die Pandemie verschärft die Ungleichheit. Religiöse Führerinnen und Führer sind in einer gewichtigen Position, um sich in dieser globalen Notlage für Menschenrechte und Menschenwürde einzusetzen.
Nationale Interessen schließen vulnerable Menschen aus
„Die COVID-19-Krise offenbart die ganze Wucht ungerechter Strukturen. Flüchtlinge und sehr arme Menschen sind einem großen Risiko ausgesetzt“, so Reverend David Hollenbach, Senior Fellow an der theologischen Fakultät der Georgetown Universität. In der Zeitschrift America, einer katholischen Wochenzeitschrift über Glauben und Kultur, schreibt er: „Es werden auch die Gefahren eines politischen Diskurses aufgezeigt, der die nationalen Interessen in den Vordergrund stellt und dabei die vulnerablen Menschen ausschließt.“
Um dem entgegenzuwirken, kommt religiösen Persönlichkeiten in Gemeinschaften der Diaspora eine wichtige Rolle zu. Sie können Verbindungen zu denen herstellen, die der Gesellschaft verborgen bleiben. Sie können Freiwillige mobilisieren, Traditionen der Nächstenliebe aufleben lassen und lokale Gemeinschaften mit lokalen Regierungen in Verbindung bringen.
Das heißt nicht, dass Religion das Allheilmittel ist. Religiöse Führerinnen und Führer und ihre Institutionen bieten nur eine Lösung inmitten einer Vielzahl von Lösungen an. Alle Möglichkeiten müssen genutzt werden, um eine Krise dieses Ausmaßes zu bewältigen. Ebenso warnen Expertinnen und Experten davor, dass bestimmte Glaubensakteurinnen und -akteure zwar eine mächtige Rolle in ihren Gemeinschaften spielen mögen, sich aber womöglich nicht eingestehen, dass sie selbst nicht genug über wirtschaftliche Zusammenhänge oder das öffentliche Gesundheitswesen wissen. Das kann ein Problem sein.
„Sie können Bemühungen behindern. Wenn sie Pläne nicht vollständig verstehen, dann kann es zu Missverständnissen kommen. Sie könnten die Unterstützung der Gemeinschaft blockieren. Wenn sie von Anfang an in einen Prozess eingebunden werden, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie ihn später blockieren“, gibt Saleem zu bedenken.
Religiöse Rituale dürfen nicht wichtiger sein als pragmatischen Ratschläge, um die alltäglichen Sorgen der Gemeinschaften zu thematisieren. „Die Relevanz der religiösen Führungspersonen hängt davon ab, wie sie den Bedürfnissen der Menschen vor Ort gerecht werden. Dazu gehören sozioökonomische Aspekte, Ernährungssicherheit, häusliche Gewalt und psychische Probleme.“
Es gibt noch eine weitere Hürde. Trotz der Stärken und Möglichkeiten, die viele kirchliche Institutionen bieten, sind säkulare und Institutionen möglicherweise zurückhaltend, wenn es darum geht, mit ihnen in Kontakt zu treten.
„Im Westen haben wir sicherlich sehr konkrete Vorstellungen davon, wie Organisationen aussehen sollten und fühlen uns im Umgang mit solchen vielleicht unwohl“, erklärt Owen. „Es gibt eine Abneigung gegen gemeinschaftsbasierte Organisationen, die 'zu religiös' sind. Die Sprache religiöser Akteurinnen und Akteure unterscheidet sich von jener der Politikerinnen und Politiker aufgrund der inhärenten Art des Glaubens. Das kann bestimmten Interessenvertreterinnen und -vertretern sowie Regierungsmitgliedern leicht Unbehagen bereiten. Das ist nicht unbedingt ein Problem der Organisation. Ihr Engagement entsteht aus ihren religiösen Überzeugungen und sie leistet womöglich erstaunliche Arbeit.“
Laut Owen sei der Schlüssel guter Zusammenarbeit, eine gemeinsame Basis und eine gemeinsame Sprache zu finden. Das würde Nutzen auf mehreren Ebenen schaffen. Politikerinnen und Politiker würden das Vertrauen erlangen, ohne Furcht vor Fehlern bezüglich religiöser Dogmen zu sprechen. Im Gegenzug könnten religiöse Persönlichkeiten zu wichtigen Partnern werden, ohne dass sie ihre Weltsicht verleugnen oder sich als säkulare NGOs neu profilieren müssten.
Gemeinsame Sprache finden
„Wir haben diese gemeinsame Sprache, diesen Raum, in dem sich beide Seiten wohl fühlen und in dem religiöse Organisationen ihre Identität bewahren und offen sprechen können, noch nicht ganz ausgearbeitet“, so Owen. „Für mich ist das eine der größten Herausforderungen!“
Sobald dieser Zusammenhalt und der mutige Geist der Zusammenarbeit geschaffen sind, wäre eine Koalition säkularer und religiöser Verbündeter gut gerüstet, um die vielfältigen und verheerenden Dimensionen der Pandemie zu bewältigen.
„Unsere Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung unseres eigenen Landes dürfen unsere Pflichten gegenüber der globalen Menschheit nicht negieren“, fügt Reverend Hollenbach hinzu. „Die aktive Unterstützung der Armen und Vertriebenen wird bei den längerfristigen Bemühungen um eine gerechtere, integrativere und gesündere Welt nach der Krise von wesentlicher Bedeutung sein.“