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Transformation als Vermächtnis: Alissa Wahid und das Gusdurian Network Indonesia
Das Vermächtnis des Vaters fortzuführen ist nie einfach – vor allem, wenn dieser Vater der erste demokratisch gewählte indonesische Präsident seit einer Generation war.
Als Präsident Abdurrahman Wahid – umgangssprachlich „Gus Dur“ genannt – im Jahr 2009 starb, besuchten Millionen Menschen sein Grab in der abgelegenen Stadt Jombang in Ost-Java. Selbst jetzt, zwölf Jahre später, kommen nach Angaben der lokalen Tourismusagentur jeden Monat eine halbe Million Besucherinnen und Besucher.
Gus Dur war zwar nur zwei turbulente Jahre lang Präsident Indonesiens, doch sein Vermächtnis geht über seine Amtszeit hinaus. Nach seinem Tod empfanden Menschen aus allen religiösen und politischen Spektren des Landes ein tiefes, persönliches Gefühl des Verlustes für einen sehr beliebten Menschenfreund, dessen mitfühlendes Wirken religiöse Grenzen überschritt.
Für Alissa Wahid (49), KAICIID Fellow des Jahres 2017 und Tochter von Gus Dur, ganz zu schweigen von der Enkelin des Mitbegründers von Nahdlatul Ulama – mit 40 bis 60 Millionen Mitgliedern die größte muslimische Organisation der Welt – ist es ein großes Erbe, dem sie gerecht werden muss.
„Sie können sich vorstellen, in welche Erwartungshaltung ich hineingeboren wurde. Das war eine große Last“, erzählt Wahid vor einem Porträtbild ihres Vaters.
Dennoch hat sie das Vermächtnis ihrer Familie genutzt, um eine eigene interreligiöse Bewegung zu gründen: das Gusdurian Network Indonesia (GNI). Das Netzwerk wurde im Jahr 2010 gegründet und arbeitet in ganz Indonesien mit Aktivistinnen und Aktivisten an der Basis zusammen, um interreligiöse Versöhnung, aktive Bürgerschaft, Demokratie und Menschenrechte zu fördern.
Es ist schwierig, die komplette Reichweite der Organisation zu erfassen, da sie keine formale Mitgliederstruktur hat. Sie besteht aus Gruppen in über 114 Orten in ganz Indonesien. Darüber hinaus gibt es internationale Ortsgruppen in Malaysia, Großbritannien, Saudi-Arabien, Deutschland, den Philippinen und Ägypten. Auf Twitter zählt GNI 235.000 Follower, Wahid kommt auf 449.300 Menschen, die ihr folgen.
Als Nationale Direktorin des Gusdurian Network Indonesia kämpft Wahid an vorderster Front für die Rechte religiöser Minderheiten in Indonesien, fördert die Idee des interreligiösen Austauschs zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Menschen und versucht, auf dem Erbe ihrer Vorfahren aufzubauen und ihr Werk zu erweitern.
„Wer wird uns beschützen?“
Für Wahid war der Weg in den Dienst für die Öffentlichkeit nicht selbstverständlich. Ihre Schwester, bekannt als Yenny, ging in die Politik und übernahm die Leitung des Forschungszentrums ihres verstorbenen Vaters, das Wahid-Institut. Doch Alissa mied zunächst die Öffentlichkeit.
Als ihr Vater im Jahr 2009 verstarb, kamen Vertreterinnen und Vertreter verschiedener religiöser Minderheiten zum Haus der Familie, um Gus Dur die letzte Ehre zu erweisen. Sie erzählten auch von ihren Problemen und baten Alissa, aktiv zu werden.
„Sie sagten Dinge zu mir wie: 'Jetzt, wo dein Vater gestorben ist, zu wem sollen wir kommen, wenn wir leiden? Wer wird uns beschützen?'“
„In diesen Momenten dachte ich an das, was mein Vater uns immer gesagt hatte: 'Ihr müsst euch eurer Fähigkeiten bewusst werden'. Er sagte immer, wir könnten leben, wie wir wollten, aber wir dürften unsere Berufung nicht aufgeben.“
Aus dieser Überzeugung heraus gründete Wahid die Organisation GNI, um die Arbeit ihres Vaters fortzusetzen und gemeinsame Räume für den interreligiösen Dialog zu schaffen.
Das umfangreiche Netzwerk hat es ihr ermöglicht, den Pluralismus in Indonesien auf breiter Ebene zu fördern. Aber auch Menschen vor Ort zu mobilisieren, um marginalisierte Gemeinschaften zu schützen, wenn diese bedroht werden.
Im Jahr 2010 trank Wahid einen Kaffee bei Starbucks, als sie eine Meldung über einen Angriff auf ein Dorf in West-Java erhielt. Das Dorf, das größtenteils von Ahmadis bewohnt wird, einer Glaubensgemeinschaft, die von religiösen Hardlinern als "nicht-muslimisch" angesehen wird, wurde als Teil mehrerer hinterhältiger Attacken in ganz Indonesien angegriffen. Die Ahmadis fürchteten um ihr Leben.
Wahid war 500 Kilometer entfernt, doch die Nachricht informierte nicht nur über die Gefahr, sondern brachte auch die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Gusdurianer zu Hilfe kommen würden. Wahid ließ den Kaffee stehen und begann, Mitglieder ihres Netzwerks in der betroffenen Gegend zu suchen und sie mit den Dorfbewohnern in Verbindung zu bringen.
Das Netzwerk reagierte rasch und bildete eine schützende, menschliche Mauer um das Dorf. So wurden buchstäblich die Ideale des religiösen Pluralismus und der Freiheit umgesetzt, für die sich Wahids Vater immer stark gemacht hatte.
Das war ein Wendepunkt für die Organisation und für Wahid. „Damals wurde mir klar, dass es bei dieser Arbeit nicht nur um schöne Worte geht“, erzählt sie. „Es geht darum, Freiheiten zu verteidigen und Menschen, vor allem gefährdete Gruppen, zu schützen.“
Hartnäckige Arbeit für schwer fassbare Gerechtigkeit
Die Bekanntheit der Organisation und Wahids Überzeugung haben sie dazu gebracht, sich wieder in der Politik zu engagieren. Die Zunahme des religiösen Extremismus in Indonesien beunruhigt viele Regierungsmitglieder. Sie haben Wahid in den letzten Jahren mehrmals aufgefordert, sich an der Bekämpfung des Rechtsrucks in der Bevölkerung zu beteiligen.
Während ihrer Zeit als KAICIID Fellow merkte Wahid neuerlich, wie einflussreich religiöse Führerinnen und Führer sein können.
„Viele Dinge können durch den Einsatz von Religion erreicht werden. Religion kann eine gute Sache sein, aber auch als Werkzeug für Konflikte missbraucht werden.“
Daher begann Wahid während ihres Fellowships an Projekten der Regierung zu arbeiten, um sich für mehr interreligiösen Dialog einzusetzen und „nicht nur den Frieden, sondern auch religiöse Bescheidenheit zu fördern“, erklärt sie.
Zusammen mit anderen KAICIID Fellows erkannte Wahid, dass der interreligiöse Dialog „wirklich notwendig ist, um einige falsche Vorstellungen, Missverständnisse und Vorurteile aus dem Weg zu räumen, damit wir an einer besseren Welt arbeiten können.“
Dennoch sind Wahid und GNI weiterhin dem Widerstand von Traditionalisten und Hardlinern in der indonesischen Gesellschaft und Regierung ausgesetzt. Die Kämpfe, die ihr Vater ausgefochten hat, sind hartnäckig, so Wahid. Sie weiß, dass sie viel Ausdauer brauchen wird, um diese zu gewinnen.
„Man muss die Arbeit nicht mögen, man muss sich nur auf das Ergebnis konzentrieren, das man erreichen will“, so Wahid. „Politik ist wie Tanzen: Ein Schritt vor, zwei zurück. Gerechtigkeit ist nicht einfach zu erreichen, aber es ist möglich.“
Wahid sieht ein, dass noch ein langer Weg vor ihr liegt, trotzdem freut sie sich, dass die Ideen und das Erbe ihres Vaters nicht in Vergessenheit geraten sind, sondern vielleicht sogar mehr als je zuvor gedeihen.
„Wir haben auf höchster Regierungsebene über interreligiöse Zusammenarbeit, Respekt und eine gerechtere Perspektive für das religiöse Leben gesprochen. Die wirkliche Errungenschaft wird darin bestehen, diese Diskussionen aufzugreifen und einen sozialen, physischen und psychologischen Raum zu schaffen, in dem Menschen auf der Grundlage der Prinzipien von Gerechtigkeit und Menschlichkeit zusammenkommen können.“
Letztendlich hofft Wahid, dass das Vermächtnis von GNI eine langfristige „soziale Transformation“ sein wird.
Anerkennung in Indonesien und darüber hinaus
Trotz Rückschlägen haben die Menschen in Indonesien und im Ausland gemerkt, was das Gusdurian Network Indonesia (GNI) bereits erreichen konnte. Im Jahr 2018 erhielt das Netzwerk von Taiwan den Preis für Demokratie und Menschenrechte in Asien. Im Jahr 2020 wurde es von einer der größten indonesischen Nachrichtenagenturen zur besten Social-Media-Bewegung gekürt.
Manjid Achmad, Professor an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta, erforscht interreligiösen Dialog und sagt, dass GNI und Wahid vorzeigen, wie man religiösen Pluralismus fördern und Minderheitenrechte effektiv schützen kann – „indem man diese gemeinsamen Probleme nicht selbst bekämpft oder löst, sondern andere dazu inspiriert, sie zu lösen“.
Er betont, dass katholische, protestantische, hinduistische, buddhistische und andere Gläubige Teil des Netzwerks sind. „Je mehr Akteurinnen und Akteure mitmachen, desto besser ist es für Indonesien.“
Der indonesische Wissenschaftler und GNI-Mitglied, Aan Anshori, erzählt von seiner persönlichen Sichtweise auf die Situation. „Ich habe durch Alissas Arbeit viel gelernt: Integrität, Bescheidenheit und Mut. Sie ist für uns eine spirituelle Führerin, die uns den Weg zeigt, der viel Aufopferung erfordert, um die Unterdrückten zu verteidigen. Alissa ist nicht nur die biologische Tochter von Gus Dur, sondern auch eine ideologische.“
In dieser Hinsicht, so Anshori, führt sie das Vermächtnis ihres Vaters sehr gut fort.