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Teilhabe als Grundlage: Die Rolle der Religion in der Friedenskonsolidierung und Konfliktprävention
Wenn es um Konflikte geht, nimmt Religion einen paradoxen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung ein.
Religiöse Akteurinnen und Akteure räumen ein, dass sie und ihre Religionsgemeinschaften oft ignoriert werden. Zusätzlich werde ihr Glaube missbraucht, um Hass und Gewalt zu schüren.
Gleichzeitig glauben Vertreterinnen und Vertreter des religiösen und politischen Spektrums, dass „Religion in den aktuellen Krisen nicht nur Teil des Problems ist, sondern Teil der Lösung“.
Das Interreligiöse G20-Forum wird vom 13. bis 17. Oktober aus Saudi-Arabien übertragen. Es zeigt, wie interreligiöse Zusammenarbeit zur Lösung globaler Herausforderungen beitragen kann. Vertreterinnen und Vertreter aus Religion und Politik kommen zusammen, um Lösungen für einige der schwerwiegendsten Probleme der Welt zu suchen.
Das Forum soll „sicherstellen, dass die vielen Ideen und Taten der religiösen Gemeinschaften in Bezug auf globale Agenden gehört und verstanden werden“.
Als eine weltweit führende Organisation im interreligiösen Dialog ist KAICIID ein wichtiger Partner des Interreligiösen G20-Forums.
Frieden stiften und Konflikte vermeiden
Einer der Schwerpunkte des diesjährigen Forums wird die Rolle der Religion bei der Friedenskonsolidierung und Konfliktprävention sein. Fachleute aus verschiedenen Regionen werden sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Glaubensgemeinschaften die Politik unterstützen können, Initiativen umzusetzen. Dabei geht es um die Bekämpfung von Hassrede und gewalttätigem Extremismus, den Schutz heiliger Stätten, die Förderung einer integrativen Gesellschaft und die Verhinderung von Menschenhandel und moderner Sklaverei.
Für Katherine Marshall, Senior Fellow am Berkley Center for Religion, Peace and World Affairs und Exekutivdirektorin des World Faiths Development Dialogue, ist es wichtig, dass Religionsgemeinschaften in die Friedenskonsolidierung und Konfliktprävention einbezogen werden. Das sei schließlich Teil ihrer DNA.
„Frieden zu stiften ist Teil des grundlegenden Ethos vieler religiöser Traditionen“, so Marshall.
Und weiter: „Religion ist Teil vieler Konflikte. Religiöse Persönlichkeiten müssen daher an deren Lösung beteiligt werden. Unabhängig davon, ob der Konflikt einer Tradition oder Interpretation geschuldet ist oder es sich um ein Missverständnis handelt.“
Konflikte können leicht andere Ziele, die Religionsgemeinschaften verfolgen, zum Scheitern bringen. „Wenn wir uns nicht um diese Konflikte kümmern, können wir die Welt, in der wir leben wollen, nicht erschaffen“, meint Marshall.
Mehrdimensionale Strukturprobleme
Einer der komplexesten Konflikte, der die öffentliche und politische Aufmerksamkeit erregt hat, ist die Gewalt in Myanmar, die aus jahrzehntelangen mehrdimensionalen Strukturproblemen entstand.
Reverend Mahn Palmerston, der als Generalsekretär den „Rat der Kirchen Myanmars“ leitet, kennt den Konflikt nur zu gut. Palmerston hat 25 Jahre Erfahrung mit interreligiöser Arbeit. Er meint, es sei wichtig, dass die Menschen verstehen, dass es „viele ethnische Gruppen in Myanmar gibt. Das sind Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Kulturen, Menschen aus den Berggebieten, aus dem Deltagebiet, unterschiedliche Dialekte, unterschiedliches Aussehen.“
Laut Palmerston kann all diese Vielfalt zu Missverständnissen, Meinungsverschiedenheiten und offener Feindseligkeit führen. Religiöse Führerinnen und Führer, unabhängig von ihrem Glauben, sind aufgerufen, „den Frieden in unserer Gemeinschaft zu schützen“.
Palmerston wurde gebeten auch außerhalb seiner christlichen Gemeinschaft bei der Vermittlung in Konfliktgebieten zu helfen. Er wurde einst zur Grenze zwischen Myanmar und Thailand als Vermittler gerufen. Eine lokale buddhistische Gemeinschaft wollte einen Tempel in unmittelbarer Nähe einer bestehenden Kirche bauen.
Dasselbe Land teilen
Was als einfache Meinungsverschiedenheit begann, wurde bald zu einem offenen Konflikt. Palmerston konnte mit Hilfe seiner Fähigkeiten in der lokalen Karen-Sprache das Bauprojekt stoppen und den Weg zum Frieden, zwischen den sich bekriegenden Gemeinschaften ebnen. Als Außenstehender erinnerte er sie daran, dass sie unabhängig von ihrem buddhistischen oder christlichen Glauben, dieselbe Sprache sprechen und sich dasselbe Land teilen.
„Normalerweise sterben bei dieser Art von Problemen Menschen, doch dieses Mal wurde niemand getötet, nicht ein einziger Tropfen Blut ist geflossen.“
Palmerston ist sich bewusst, dass Friedenskonsolidierung und Konfliktprävention oft nicht so einfach sind. „Viele Jahre lang haben wir ohne Probleme zusammengelebt.“ Er bezieht sich dabei auf die verschiedenen religiösen Gruppen, die seit Jahrzehnten in Myanmar beheimatet sind.
Heute ist Myanmar mit einem Konflikt zwischen ehemals friedlichen Gruppen konfrontiert, der „eine von Menschen gemachte Realität“ ist. Palmerston macht wirtschaftliche, politische und Bildungs-Diskrepanzen sowie Streit über knappe Ressourcen für die Zwietracht verantwortlich. Trotzdem hofft er, dass der Konflikt bald überwunden sein wird.
Liebe, dauerhafter Frieden, Menschenrechte
Religiöse Führerinnen und Führer haben die Verantwortung zu zeigen, dass wir nicht „Muslime, Christen oder Buddhisten sind - wir sind ein Volk. Wir alle wollen die gleichen Dinge: Liebe, dauerhaften Frieden, Menschenrechte.“
Dr. Youssef Bin al-Mahdi von der Abdelmalek Essaadi Universität in Tétouan, Marokko, ist KAICIID Fellow des Jahres 2018. Bei dem Versuch, eine solche Einheit zu finden, bestehe eine Versuchung darin, „die Religion ihrer Seele zu entleeren“, um eine gemeinsame Basis zu finden, meint er. Dies wäre ein Fehler.
Stattdessen bemüht sich al-Mahdi einerseits „um die Verbreitung eines Bewusstseins für kulturelle und intellektuelle Vielfalt“ und appelliert andererseits an „eine gemeinsame Identität und eine menschliche Zivilisation“.
Letztlich komme es darauf an, dass jeder eine Wahl treffe. „Wir wählen das Lebensmodell, das wir wollen, auf der Grundlage dessen, woran wir glauben. Wir nutzen unsere Fähigkeiten, um es zu erreichen. Wenn wir wollen, dass auf der Erde Frieden herrscht, müssen wir all unsere Energie in das Bemühen investieren, dies zu erreichen“, so al-Mahdi.
„Ich kann mir ein Leben ohne Unterschiede oder Vielfalt nicht vorstellen. Deshalb glaube ich, dass wir daran arbeiten müssen, Unterschiede zu verstehen und Religion als Teil einer realistischen, wirksamen Lösung für die Probleme der Menschheit zu betrachten.“
Wirtschaftliche und soziale Herausforderungen
Rabbiner Jorge Knoblovits, Präsident der „Israelitischen Vereinigung Argentiniens“ (DAIA) und Koordinator der Arbeitsgruppe "Wirtschaftliche und soziale Herausforderungen" der Konsultation in Lateinamerika, betont, dass in einer turbulenten Welt religiöse Institutionen entscheidend sind, um gemeinsame Herausforderungen zu meistern.
„Bei so viel Hass, Gewalt, Verfolgung und Ausgrenzung müssen wir die Wege der Verständigung durch interreligiösen Dialog stärken“, so Knoblovits.
Die jüdische Gemeinschaft in Argentinien hat - zusammen mit katholischen, muslimischen und anderen religiösen Gemeinschaften – versucht, eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Zusammenleben mit verschiedenen religiösen Traditionen normal ist. Interreligiöse Zusammenarbeit und interreligiöser Dialog sollten nicht fremd, sondern die Basis der Zivilgesellschaft sein.
Dies erfordere Bildung und die „Dekonstruktion alter kultureller Paradigmen in unseren eigenen Gemeinschaften, die über Generationen tief verwurzelt waren“, so Knoblovits.
„Gleichzeitig müssen religiöse Institutionen in der Zivilgesellschaft Gehör finden, damit unsere Vision und unsere Empfehlungen dazu beitragen können, die Politik und die Wege zur Lösung unserer sozialen Probleme zu gestalten.“
Einfluss religiöser Diskurse
Al-Mahdi stimmt zu: „Es ist nicht klug, religiöse Institutionen in politischen Diskussionen zu ignorieren. Insbesondere dann nicht, wenn die Welt Zeuge der Macht und des Einflusses religiöser Diskurse ist.“
Al-Mahdi hofft, dass das bevorstehende Interreligiöse G20-Forum eine Gelegenheit bieten wird, das Ignorieren religiöser Persönlichkeiten und Diskurse in der Vergangenheit zu korrigieren. „Das war ein Fehler, denn es hat die Probleme und Konflikte nur noch verschärft. Vor allem hat der gewalttätige Extremismus im Namen der Religionen zugenommen“, so al-Mahdi.
„Die Grundlage für die Politik muss die Teilhabe der Religion sein. Sie ist ein wichtiger Teil in der realen und virtuellen Gesellschaft. Sie hat das Potenzial, die Lösung unserer sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Probleme positiv zu beeinflussen. Die Vorteile einer Partnerschaft zwischen religiösen Institutionen und Regierungen sind vielfältig“ meint al-Mahdi.
„Und die Nachteile, diese Partnerschaft zu ignorieren, sind sehr gefährlich.“