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Junge muslimische und jüdische Botschafterinnen und Botschafter entscheiden sich für Dialog und gegen Stereotype und Konflikte
Als Rabab Nassabieh, eine 24-jährige Muslimin aus Deutschland, für das Young Ambassador Programme des Muslim Jewish Leadership Council ausgewählt wurde, zögerte sie nicht lange und nahm die Chance wahr.
Nassabieh war sehr neugierig auf andere Kulturen und Religionen. Vor der Teilnahme an dem Programm hatte sie nur wenige Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft kennengelernt. „Es ist nicht sehr üblich, Menschen mit anderer Religion zu treffen. Man lebt oft in seiner eigenen Blase. Doch dies war eine Gelegenheit zu erfahren, welches Potenzial im Dialog zwischen den Religionen steckt.“
Einige hundert Kilometer entfernt hat Vitalina Pasarenko, eine junge Jüdin aus Polen, ähnlich auf die Teilnahme an dem Programm reagiert. Für sie ging es darum, ihrer Familie und ihrer Gemeinde zu zeigen, dass Menschen aller Glaubensrichtungen gemeinsame Werte teilen und dass Juden und Muslime gar nicht so unterschiedlich sind, wie die Medien oft suggerieren.
„Ich wollte zeigen, dass wir offen sein und Stereotypen überwinden können. Wir sind normale Menschen, wir haben Familien, wir gehen in den Supermarkt. Jüdinnen und Juden, Musliminnen und Muslime leben ein Leben wie alle anderen“, sagt sie.
Junge Führungskräfte ausbilden, um Gemeinschaften zu verändern
Sowohl Nassabieh als auch Pasarenko sind Teil einer Gruppe von acht jungen Botschafterinnen und Botschaftern aus Deutschland, Polen, Spanien und dem Vereinigten Königreich. Jedes Land hat einen jüdischen und einen muslimischen Botschafter, die unter einem erfahrenen Mentor zusammenarbeiten. Das Programm wird von dem von KAICIID unterstützten Muslim Jewish Leadership Council (MJLC) ausgerichtet. Der muslimisch-jüdische Rat bringt einige der einflussreichsten religiösen Führerinnen und Führer Europas zusammen, um Vorurteile und Desinformation zu bekämpfen und Pluralismus und die Rechte religiöser Minderheiten zu fördern.
Ethan Susser, Koordinator des MJLC, erklärt, dass der Rat zwar normalerweise an hochrangigen politischen Diskussionen beteiligt sei, dass er aber auch eine neue Generation von Führungskräften aufbauen wolle. „Junge Menschen sind im interreligiösen Dialog unterrepräsentiert, aber der MJLC sieht den Mehrwert, den sie in diesem Prozess einbringen.“
Die Auswahlkommission des MJLC wählte die Botschafterinnen und Botschafter aufgrund ihrer Bereitschaft aus, sich auf neue Religionen und Kulturen einzulassen. „Sie haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gesammelt, aber jeder von ihnen ist kompetent, wissbegierig und bereit, die eigene Komfortzone zu verlassen“, betont Susser.
Die Botschafterinnen und Botschafter haben bereits mehrere speziell für sie konzipierte Workshops und Schulungen absolviert, die im Dezember 2022 begonnen haben. Expertinnen und Experten von KAICIID schulten die Botschafterinnen und Botschafter im Bereich des interreligiösen Dialogs, Mentorinnen und Mentoren sowie weitere Fachleute gaben Tipps zu den Themen Projektmanagement und Interessenvertretung. Außerdem wurde ein Kurs zur Bekämpfung von Hassrede im Internet abgehalten.
Laut Susser war es ein wesentliches Ziel des Programms, den Botschaftern praktische Fähigkeiten zu vermitteln, da viele junge Menschen oft ignoriert werden und ihr Potenzial daher nicht ausgeschöpft wird. „Durch die Investition in diese jungen Führungspersönlichkeiten durch Weiterbildungen, Begleitung und Projektfinanzierung hofft der MJLC, den Botschaftern die Möglichkeit zu geben, sowohl kurz- als auch langfristig sinnvolle Veränderungen in ihren Gemeinden zu bewirken.“
Religiöse Frauen brauchen mehr Chancen für Führungspositionen
Ein bemerkenswerter Aspekt des Programms ist neben den vielen jungen Botschaftern auch die Zahl von Frauen – wie Nassabieh und Pasarenko. Erstere ist entschlossen, mit dem Klischee aufzuräumen, dass Frauen mit einem bestimmten ethnischen oder religiösen Hintergrund keine mutigen Führungspersönlichkeiten in ihren Gemeinschaften sein können.
„Es gibt ein sehr rückständiges Bild von muslimischen Frauen, die in Wirklichkeit so unabhängig und stark sind. Dennoch bekleiden sie nicht immer die formalen Führungspositionen, die ihnen zustehen, und das muss sich ändern“, meint sie.
Nassabieh ergänzt, dass Initiativen wie das Young Ambassador Programme helfen können, indem sie direkt mit den Gemeinschaften zusammenarbeiten, um gefährliche Stereotypen zu überwinden und jungen Frauen Führungsmöglichkeiten zu bieten. „Das Klischee, dass muslimische Frauen unterdrückt sind, muss abgeschafft werden. Es hält sie zurück und hindert sie daran, ihr Potenzial voll auszuschöpfen. Stattdessen müssen wir sie ermutigen, in allen Bereichen des Lebens präsent und aktiv zu sein.“
Dialog in ihre Gemeinschaften verankern
Nach Abschluss der Trainings sind die Botschafterinnen und Botschafter in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Dort werden sie nun das Jahr damit verbringen, unter Anleitung ihrer Mentorinnen und Mentoren Initiativen in ihren Gemeinschaften umzusetzen.
Pasarenko, Nassabieh und die anderen Teilnehmer haben viele Möglichkeiten erarbeitet, um die jüdische und muslimische Bevölkerung in ihren Heimatorten zusammenzubringen. Dazu zählen interreligiösen Exkursionen und Treffen mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern bis hin zu Kunstworkshops und Kochkursen, die Elemente des Dialogs enthalten. Im Vereinigten Königreich hat der Mentor des Programms, Shayk Faid Mohamed Said, ein prominenter Imam und Islamwissenschaftler, gemeinsam mit seinen jungen Botschaftern eine Reihe von Veranstaltungen geplant, die den jüdischen und muslimischen Gemeinschaften helfen sollen, mehr über den Glauben und die Kultur des jeweils anderen zu erfahren. Kürzlich besuchte sein jüdischer Schützling den Imam in dessen Moschee, um mehr über die muslimischen Traditionen zu erfahren.
Die Neugier und Offenheit der jungen Leute ist für Said ermutigend. Er ist der Meinung, dass die jüngeren Generationen langsam das Misstrauen ablegen und Konflikte zugunsten des Dialogs beenden.
„Wir als ältere Generation haben unsere eigenen Herausforderungen, aber unser größtes Versagen wäre, wenn wir die nächsten Generationen nicht zusammenbringen würden. Sie sind die Zukunft. Dank des Programms sehe ich jetzt die Verständigung zwischen unseren beiden jungen Botschaftern aus dem Vereinigten Königreich. Wenn junge Muslime und Juden einander mit Verständnis und Respekt begegnen, werden sie hoffentlich bessere Ergebnisse erzielen als die Generationen vor ihnen“, fügt er hinzu.
Stärke in kultureller und religiöser Identität finden
Nassabieh und Pasarenko glauben, dass die meisten Menschen den Dialog mit anderen Religionen fürchten, weil sie sich ihrer eigenen Identität nicht sicher sind.
Laut Nassabieh ändert sich das langsam, da die Gesellschaft zu erkennen beginnt, dass Menschen oft zwei Identitäten haben – als Europäer und als Muslime. „Ich denke, es gibt eine viel größere Offenheit gegenüber unserem Glauben. Zudem gehen wir selbstbewusster mit unserer arabischen Herkunft um, haben aber auch Wurzeln in Deutschland. Trotzdem gibt es immer noch Rassismus und Diskriminierung, gegen die wir als Gesellschaft aktiv vorgehen müssen.“
Pasarenko berichtet, sie spüre auch Zurückhaltung bei jungen Jüdinnen und Juden, die oft nicht verstehen würden, wie ihre Kultur oder ihr Glaube mit ihrem täglichen Leben zusammenhängt. „Ich glaube, unsere Familien, unsere Geschichte und unsere Traditionen sind ein Teil von uns selbst. Man weiß nicht, wer man ist, bis man seine eigene Geschichte kennt.“
Said fügt hinzu, dass er deshalb junge Menschen dazu ermutigt, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen und sich am interreligiösen Dialog zu beteiligen. „Auf diese Weise können sie verstehen, dass wir zuerst Menschen sind, bevor wir Muslime, Christen oder Juden sind. Es ist unsere Aufgabe in diesem Leben, das Gute zu verbreiten und für die Grundsätze von Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl einzutreten.“
Die Gesellschaften müssen begreifen, dass wir alle Menschen sind, um die Behauptung zu widerlegen, dass Juden und Muslime nicht miteinander auskommen können, sagt Nassabieh.
„In den Workshops haben wir entdeckt, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten haben und Werte teilen, die uns wichtig sind“, sagt sie. „Anstatt sich auf das Narrativ einzulassen, dass unsere beiden Gemeinschaften zu Konflikten neigen, wählt das Programm den vielversprechenderen Weg des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses.“