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Gemeinsamkeiten finden, Spannungsfelder erforschen: Menschenrechte und religiöse Werte

12 Juli 2021

Menschenrechtsorganisationen sowie religiöse Akteurinnen und Akteure verfolgen oft gemeinsame Ziele, wenn es um die Rechte von Menschen geht, die aus sozialen, wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen Zuflucht suchen; um Hilfe für und den Schutz von Schwachen und um zahlreiche andere Fragen im Zusammenhang mit globaler Gerechtigkeit. Es gibt jedoch Themen wie persönliche moralische Überzeugungen, öffentliche Gesundheit und andere Angelegenheiten, die zu Konfliktpunkten werden können.

Das Internationale Dialogzentrum (KAICIID) erkennt diese Verbindungen und Spannungfelder an, die zwischen Religionsgemeinschaften und Vertreterinnen und Vertretern der Menschenrechte bestehen. Das Dialogzentrum hat einen Leitfaden erstellt, der zeigt, wie sorgfältige Koordination und Partnerschaften diverser Akteurinnen und Akteure zu produktivem Dialog und der Förderung der Menschenrechte beitragen können. Der folgende Text basiert auf der Veranstaltung „Gemeinsamkeiten finden, Spannungsfelder erforschen: Menschenrechte und religiöse Werte“. Dieses Treffen fand am 27. Mai 2021 mit ehemaligen KAICIID Fellows statt.

Religiöse Führerinnen und Führer nehmen nicht nur eine proaktive Rolle ein, sondern können Vorbilder bei der Aufrechterhaltung, Verteidigung und Stärkung der Menschenrechte auf der ganzen Welt sein.

Religionsfreiheit: ein grundlegendes Menschenrecht

Für viele religiöse Akteurinnen und Akteure beginnen die Menschenrechte mit dem Schutz der Religionsfreiheit. Als Teil der ältesten und am wichtigsten angesehenen Rechte werden die Religions- und Glaubensfreiheit in Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte genannt:

„Jeder Mensch hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Überzeugung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“

Dazu gehört auch die Freiheit, nicht gezwungen zu werden, „eine Religion oder Weltanschauung anzunehmen“; das Recht, sich zu versammeln, und die Freiheit, „die religiöse und moralische Erziehung eigener Kinder in Übereinstimmung mit den persönlichen Überzeugungen sicherzustellen“.

Und doch zielen selbst die Gesetze zur Religionsfreiheit – die laut der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weithin als eine herausragende Dimension der internationalen Menschenrechte anerkannt sind – auf den Schutz von Menschen und nicht von „Religionen“ an sich ab, so Susan Kerr, Leitende Beraterin für Religions- und Glaubensfreiheit im OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR). Darüber hinaus schützen diese Gesetze sowohl interne als auch externe Aspekte des religiösen Glaubens und Verhaltens, erklärt sie. Es sind jedoch nur interne Aspekte der Religion, zum Beispiel Gedanken, Überzeugungen und so weiter, die bedingungslos geschützt sind. Für externe Praktiken gibt es Grenzen und Bedingungen.

Die OSZE betont, dass jedem Menschen das Recht garantiert wird, eine Religion oder Weltanschauung seiner Wahl anzunehmen, entweder allein oder in Gemeinschaft mit anderen, in der Öffentlichkeit oder privat, und diese Religion durch Gottesdienst, Ausübung, Praxis und Lehre zu  verfolgen. Jedoch gab es heftige Diskussionen über die Grenzen, die religiösen Persönlichkeiten und Institutionen eingeräumt werden, wenn diese Praktiken als unvereinbar mit anderen grundlegenden Menschenrechten angesehen werden, gegen die öffentliche Gesundheit und Sicherheit verstoßen oder keine zentrale religiöse Überzeugung darstellen. Laut dem Rechtswissenschaftler Farrah Raza von der Universität Oxford geht die Debatte um die „normative Klarheit“ der Bedingungen für die Religionsfreiheit weiter.

Ioannis Dimitrakopoulos, leitender wissenschaftlicher Berater bei der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), betont, dass die Religionsfreiheit und die darin verteidigten Ansichten und Praktiken als Teil einer großen Bandbreite von Rechten betrachtet werden sollten, die in einem Gleichgewicht zueinander gehalten werden müssen.

Dennoch glaubt Kerr, dass Gesetze für die Religionsfreiheit ein guter Ausgangspunkt für religiöse Akteurinnen und Akteure sein können, um darüber nachzudenken, wie sie zur Verwirklichung der Menschenrechte im weiteren Sinne beitragen können.

„Wenn ein Mitglied einer Religion sich für die religiösen Rechte anderer einsetzt, ist das besonders hilfreich“, sagt sie.

 

Wie können Ursachen für Spannungsfelder zwischen Religionsfreiheit und Menschenrechten beseitigt werden?

Die öffentliche Anerkennung verschiedener Familienformen und sexueller Orientierungen, Fragen der Konvertierung und die Ablehnung bestimmter religiöser Praktiken haben bei einigen Religionsgemeinschaften negative Reaktionen ausgelöst und zu Spannungen zwischen ihnen und Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten geführt. In anderen Fällen fühlen sich religiöse Akteurinnen und Akteure für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht, obwohl andere Faktoren im Spiel sind oder sie haben das Gefühl, dass eine gewalttätige, lautstarke oder fanatische Minderheit innerhalb ihrer Gemeinschaft mit der Mehrheit verwechselt wird.

Dimitrakopoulos erklärt, dass die potenziellen Spannungsfelder zwischen Menschenrechten und religiösen Werten nicht zwischen „Religion“ und „Menschenrechten“ an sich liegen, sondern darin, wie beide interpretiert und angewendet werden. Es gibt keine Grundlage dafür, diese Spannungen als unüberwindbaren Widerspruch zwischen den beiden zu formulieren.

„In unseren heiligen Schriften gibt es Frieden und es gibt Krieg, in der Vergangenheit und Gegenwart unserer Gesellschaft gibt es Frieden und es gibt Krieg. Es liegt an uns zu entscheiden, worauf wir uns konzentrieren und was wir leben“, betont Dimitrakopoulos.

Die Skepsis einiger religiöser Führerinnen und Führer gegenüber den Menschenrechten und das Misstrauen von Menschenrechtsvertreterinnen und -vertretern gegenüber religiösen Persönlichkeiten sei auf einen Mangel an Bewusstsein, Bildung und Interaktion zurückzuführen, meint Kerr.

Dimitrakopoulos und Kerr sind sich einig, dass der beste Weg, dieses Gleichgewicht zu finden - und angespannte Beziehungen zu vermeiden - darin bestehen sollte, religiöse Akteurinnen und Akteure regelmäßig, inhaltlich und aktiv in Diskussionen über Menschenrechte einzubeziehen. Als zum Beispiel die Europäische Union an einer Verfassung arbeitete, waren Religionsvertreterinnen und -vertreter in den Dialog eingebunden, so Dimitrakopoulos. Von Anfang an erkannten die Parteien auf beiden Seiten, dass „soziales Recht und göttliches Recht im Dialog sein müssen“, um den Prozess erfolgreich und nachhaltig zu gestalten.

„Religiöse Führerinnen und Führer formen die öffentliche Meinung über die Gesetze der Gesellschaft“, sagt Dimitrakopoulos. „Es ist wichtig, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um eine gemeinsame Basis mit Menschenrechtsakteuren zu finden, um Vertrauen aufzubauen, um die Schwachen in unseren Gesellschaften zu unterstützen und zu stärken.“

„Nur religiöse Führerinnen und Führer einzubeziehen, geht nicht weit genug“, warnt Kerr. „Es ist auch wichtig, an andere Minderheiten zu denken und sie aktiv in die gleichen Gespräche einzubeziehen: Frauen, Kinder, Jugendliche und so weiter.“

 

Wie können religiöse Akteurinnen und Akteure die Anwendung der Menschenrechte unterstützen?

„Religiöse Akteurinnen und Akteure können auf vielfältige Weise zur Förderung der Menschenrechte beitragen und tun dies auch“, so Kerr.

Wenn es jedoch darum geht, wie „Religion“ zur Anwendung der Menschenrechte in der Öffentlichkeit beiträgt, werden die Dinge ein wenig komplexer. Es mag so aussehen, als ob „Religionen“ Menschenrechte ermöglichen oder ihnen im Wege stehen würden, doch können Religionen als solches die Verteidigung der Menschenrechte nicht behindern oder dazu beitragen, erklärt sie. „Religionen haben an und für sich keine Handlungsfähigkeit. Es sind die religiösen Persönlichkeiten, die Handlungsfähigkeit haben – die Macht, etwas zu verändern.“

Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, bewusst Themen von gemeinsamem Interesse zu identifizieren: die Integration von Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlingen, der Klimawandel, die Lebensbedingungen marginalisierter Gruppen, Rassismus, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen und die Religionsfreiheit. „Indem man gemeinsame Herausforderungen und Prioritäten identifiziert, können Menschen auf allen Seiten sichere Räume finden, um zusammenzukommen“, sagt Kerr.

Laut Dimitrakopoulos können religiöse und säkulare Institutionen, Organisationen und Akteure Wege finden, um zusammenzuarbeiten und Veränderungen zu erreichen, wenn sie miteinander in Dialog treten. „Es ist das Ergebnis, das uns zusammenbringt.“ In dieser Hinsicht habe KAICIID viel Erfahrung gesammelt, fügt Dimitrakopoulos hinzu.

KAICIIDs Arbeit zu so unterschiedlichen Themen wie Hassrede, Integration, Umweltgerechtigkeit und öffentliche Gesundheit hat nicht nur gezeigt, wie religiöse Akteurinnen und Akteure Teil der Förderung der Menschenrechte sein können, sondern dabei oft eine führende Rolle übernehmen, sagt er. „Organisationen wie KAICIID zeigen uns, wie die Arbeit gemacht werden kann – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vor Ort.“