- Unsere Geschichten
- Features
- Fünf Dinge, die wir nach einem Jahr Pandemie gelernt haben
Fünf Dinge, die wir nach einem Jahr Pandemie gelernt haben
Es ist nicht einfach, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Coronavirus-Pandemie begann. Der offiziellen Verlautbarung der Weltgesundheitsorganisation nach war es Mitte März oder in den Wochen davor, als die Grundnahrungsmittel aus den Regalen der Lebensmittelgeschäfte verschwanden. Für viele begann die Pandemie während des Lockdowns, in diesen ersten Tagen der Selbstisolation von Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden.
Ein paar wenige Infektionen verwandelten sich in alarmierende Statistiken. Religiöse Führerinnen und Führer standen an vorderster Front einer noch nie dagewesenen Krise. Sie wurden zu medizinischen und humanitären Helferinnen und Helfern, leisteten psychologische Beratung, leiteten Gottesdienste und wurden zu Freundinnen und Freunden. Sie halfen vielen von uns, das immense Gefühl von Schmerz zu verarbeiten: der Verlust geliebter Menschen, zerstörte Existenzen, abgesagte Taufen, Hochzeiten und Trauerfeiern.
In den vergangenen zwölf Monaten erzählten wir viele Geschichten vom Glauben, der ein Licht in der Dunkelheit ist. Wir interviewten hunderte Akteurinnen und Akteure, die in Ländern rund um den Globus mit KAICIID zusammenarbeiten.
Nach einem Jahr voller Lockdowns und Einschränkungen blicken wir darauf zurück, wie Religion uns in Momenten, in denen wir physisch voneinander getrennt waren, vereint hat. Wir haben in zwölf schwierigen Monaten fünf Lektionen gelernt, mit denen wir geeinter in die Zukunft blicken können.
1. Gemeinschaft entsteht in einer neuen Umgebung
Während Regierungen auf der ganzen Welt öffentliche Versammlungen verboten und Reisen einschränkten, um das Virus einzudämmen, griffen religiöse Führerinnen und Führer sowie Dialogvermittlerinnen und -vermittler zu kreativen Methoden, um das Gemeinschaftsgefühl zu erhalten.
In Österreich klebte Pfarrer Andreas Kaiser von der Pfarre Ober St. Veit Fotos seiner Gemeindemitglieder an die Kirchenbänke, um zu zeigen, dass sie in seinen Gedanken und Gebeten sind. Er schrieb ihnen Briefe und rief ältere Gemeindemitglieder an, die sich schwertaten, soziale Medien zu nutzen. "Die Idee ist, dieses Gefühl der Zugehörigkeit und den Gemeinschaftssinn zu erhalten", erklärte er.
In Argentinien schloss sich Rabbiner Marcelo Bater dem "Glaubenstelefon" (Cadena Telefónica) an, einer multireligiösen Initiative, die isolierte oder verängstigte Menschen mit einer Vertreterin oder einem Vertreter ihrer jeweiligen Glaubensrichtung verbindet. "Ich benutze das Telefon jetzt 24 Stunden am Tag, damit die Menschen in Kontakt bleiben können", so Bater. "Wenn man keine Familie hat, ist man völlig allein."
Für jüngere Menschen boten digitale Werkzeuge dringend benötigte Lösungen. Als Jugendliche auf der ganzen Welt damit kämpften, Verlust und Angst zu verarbeiten, starteten Sohini Jana und Jon Rasmussen eine Online-Selbsthilfegruppe für psychische Gesundheit, die professionelle Beratung und Führung bot.
In Saudi-Arabien wurden junge Frauen durch wöchentliche digitale Dialogsitzungen gestärkt. Jugendliche Leiterinnen und Leiter eines friedensfördernden Projekts in Nigeria entdeckten, dass Online-Treffen und WhatsApp-Gruppen es ihnen ermöglichten, Personen zu verbinden, die sich normalerweise nicht treffen würden.
2. Der Glaube findet seinen Weg
Als das Coronavirus die Gotteshäuser leerte, erinnerte KAICIIDs multireligiöses Direktorium religiöse Menschen daran, dass das persönliche Gebet und Reflexion den gleichen Zugang zum Göttlichen bieten wie physische Versammlungen. Sie riefen die Religionsgemeinschaften auf der ganzen Welt dazu auf, bei ihren gemeinsamen Andachten Weisheit und Urteilsvermögen walten zu lassen.
In allen Aspekten des Gottesdienstes zeigte sich die Kreativität der Menschen. Religiöse Führerinnen und Führer übertrugen wöchentliche Gottesdienste per Livestream, boten die Kommunion für im Auto sitzende Gläubige an und richteten Online-Reservierungssysteme mit QR-Code-Bestätigung für Gebetszeiten in lokalen Moscheen ein.
In Brasilien leitete Rabbiner Guershon Kwasniewski das erste virtuelle Seder-Essen seiner Synagoge anlässlich des Pessach-Fests; in Ägypten traf Heba Saleh ihre Freundinnen und Freunde während des Ramadans online zum Iftar-Essen.
Überall auf der Welt nahmen Buddhistinnen und Buddhisten während Vesak an digitalen Meditationssitzungen teil und bereiteten mit Hilfe von Online-Kochkursen traditionelle Feiertagsgerichte zu.
In Großbritannien sendete das multireligiöse Seelsorgeteam von Rabbi Alex Goldberg an der Universität von Surrey 18 Sendungen pro Woche aus dem Fernsehstudio des Campus und erreichte damit 10.000 Studierende. Die Sendungen beinhalteten spezielle Programme für Pessach, Ostern, Vaisakhi, Vesak, Ramadan und nicht-religiöse humanistische Feste.
Als in Indien die Zahl der Todesopfer stieg und Gottesdienste für die Beerdigungen abgesagt wurden, rief Swami Athmadas Yami das Dignity Funerals Project ins Leben, um sicherzustellen, dass religiöse Führerinnen und Führer sichere Bestattungsrituale durchführen und Gemeindemitglieder angemessenen religiösen Traditionen nachgehen können.
.
3. Leid entfacht Spaltung
Mit dem Fortschreiten der Pandemie kam es auf der ganzen Welt zu Hassrede gegen religiöse und ethnische Gemeinschaften, die zu Gewalt gegen Minderheiten und Flüchtlinge aufrief. Religionsgemeinschaften gingen gegen diese alarmierenden Trends vor.
In Indien rief Swati Chakraborty die WebPlatform4Dialogue ins Leben, um Hassrede gegen die muslimische Bevölkerung entgegenzuwirken; in Nigeria schloss sich Pater Stephen Ojapah einer Kampagne in den sozialen Medien an, um die Verbreitung von Falschinformationen einzudämmen, die sich gegen die religiösen und ethnischen Gruppen des Landes richten.
In der arabischen Region starteten Absolventinnen und Absolventen des KAICIID-Programms "Social Media as a Space for Dialogue" Kampagnen, um Online-Mobbing zu bekämpfen, Fakten zu überprüfen und sich für Frieden und Integration einzusetzen.
Angesichts des alarmierenden Anstiegs von Antisemitismus und Islamophobie versammelten sich prominente Mitglieder der muslimischen und jüdischen Gemeinden Europas in Solidarität bei einer virtuellen Gedenkveranstaltung am Internationalen Holocaust-Gedenktag. „Wir werden nicht aufhören oder ruhen, bis wir sicherstellen können, dass kein Mensch gezwungen ist, Angst, Verlust oder die Verweigerung von Rechten aufgrund seiner Identität oder religiösen Überzeugung zu erfahren“, sagte KAICIID-Generalsekretär Faisal bin Muaammar.
.
4. Moralische Autorität wirkt Misstrauen entgegen
Inmitten von Falschinformationen und wachsendem Misstrauen wandten sich die Gemeinden an religiöse Persönlichkeiten, um an glaubwürdige Informationsquellen zu gelangen. Wieder einmal erwiesen sich religiöse Führerinnen und Führer als wichtige Partner der politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, wenn es darum geht, auf große Herausforderungen zu reagieren.
In Kurdistan, Irak, brachte Barzan Baran Rashid das Ministerium für religiöse Stiftungen und Religionsangelegenheiten und das Gesundheitsministerium zusammen, um religiöse Führer darin zu schulen, ihre Anhängerinnen und Anhänger über die empfohlenen Hygienerichtlinien aufzuklären. Laut Rashid war die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ministerien äußerst wichtig für die Bekämpfung des Coronavirus in einer Region, in der sich eine Million Menschen zum Freitagsgebet in den Moscheen Kurdistans versammeln.
In Nepal klärte Rajendra Senchurey lokale religiöse Führer über die Maßnahmen der sozialen Distanzierung auf; in Kenia arbeitete Mercy Wambui Muigai mit religiösen Führungspersönlichkeiten zusammen, um gegen Stigmatisierung zu kämpfen.
In Myanmar schärfte Swe Mar Oo das Bewusstsein der Bevölkerung in benachteiligten städtischen Gebieten, in denen es an gemeinschaftlicher Koordination mit der lokalen Gesundheitsversorgung mangelte. Sie half auch bei der Bekämpfung der Diskriminierung von Gastarbeiterinnen und -arbeitern, die aus dem Ausland zurückkehrten. „Programme zur Bewusstseinsbildung in den Gemeinden sind wichtig. Unseres wurde von interreligiösen Führungspersönlichkeiten geleitet, die mit jugendlichen Freiwilligen und mit lokalen Gruppen der allgemeinen Verwaltung zusammenarbeiteten, um genaue Informationen zur Gesundheitsversorgung weiterzugeben“, erklärte Swe Mar Oo.
In Ghana schulte Mohammed Kassim religiöse Führer darin, Facebook Live zu nutzen, um Gesundheitsrichtlinien zu verbreiten. Sein Team kaufte auch Sendezeit für zwei religiöse Führer, damit sie öffentlich über die COVID-19-Prävention sprechen konnten.
Am wichtigsten ist wohl, dass religiöse Führerinnen und Führer den Gläubigen die Angst vor Coronavirus-Impfstoffen nehmen, indem sie bestätigten, dass diese den religiösen Ernährungs- und Moralrichtlinien entsprechen und für den öffentlichen Gebrauch sicher sind
5. Humanitäre Hilfseinsätze
Als das Virus die Volkswirtschaften traf und die Kluft zwischen Arm und Reich verschärfte, leisteten Glaubensgemeinschaften auch humanitäre Hilfe.
In Großbritannien unterstützten Sneha Roy und Johnson Amamnsunu christliche, hinduistische, muslimische und Sikh-Führerinnen und Führer bei der Verteilung von Hilfspaketen mit notwendigen Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Medikamenten.
In Myanmar schulte die Organisation Paungsie Metta Initiatives lokale Freiwillige in der Notfallversorgung und leistete Hilfe in Quarantänezentren. Außerdem arbeiteten sie mit Absolventinnen und Absolventen ihres Programms für interreligiösen Dialog zusammen, um Schutzmaterialien für Minderheitengemeinschaften zu beschaffen.
Rabbinerin Naomi Kalish sah die psychische Belastung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheitswesen auf der ganzen Welt und baute eine multireligiöse Bibliothek mit Ressourcen für Seelsorgerinnen und Seelsorger, Studierende, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens und die Öffentlichkeit auf.
Im Libanon sanierten Mohamed Al Jundy und die Akkar Emergency Unit Gotteshäuser und führten Online-Crowdfunding-Aktionen für staatliche Krankenhäuser durch. Außerdem verteilten sie mehr als 74.900 Lebensmittelpakete an 37.452 bedürftige Familien.
Aufbau einer besseren Welt
Die Welt war aufgefordert, sich neu zu erfinden und ihre Prioritäten zu ändern, um die Schwachen zu schützen. „In einer Welt, die immer mehr auf Eigennutz ausgerichtet ist, können wir die Wiederkehr einiger der edelsten menschlichen Instinkte sehen, die sich in zahlreichen Kulturen und Religionen widerspiegeln“, sagte KAICIID-Generalsekretär Faisal bin Muaammar in einer Erklärung zu Beginn der Pandemie.
Diese Instinkte werden uns helfen, unsere Wirtschaft, unsere Gesundheitssysteme und unsere Gesellschaften wieder aufzubauen und besser zu machen. Bei der Überwindung der Pandemie müssen wir uns auf unsere Widerstandsfähigkeit, unseren Mut, unsere Innovation, unsere gemeinsamen Werte und vor allem auf unseren Glauben verlassen, um positiv in die Zukunft zu gehen.