Man könnte meinen, Argentinien sei überwiegend katholisch, doch seine Demografie zeigt ein unerwartet pluralistisches Bild. Mit einer historisch gewachsenen jüdischen Bevölkerung, einer großen Gemeinschaft, die sich keinem bestimmten Glauben zugehörig fühlt; der größten muslimischen Minderheit in Lateinamerika und einer steigenden Zahl von Evangelikalen ist Argentinien ein religiös vielfältiges Land.
Aus diesem Grund hält die Studentin und Pfadfinderleiterin Sol Conte Roberts aus Buenos Aires den Dialog für so wichtig.
Conte Roberts findet im Dialog „die Möglichkeit, dem 'Anderen' wirklich zuzuhören, anstatt auf der Grundlage unserer Annahmen und Fehleinschätzungen zu urteilen“, und zwar über religiöse, kulturelle, geschlechts-, alters- und klassenbedingte Unterschiede hinweg. „Wir brauchen den Dialog in allen Bereichen der Gesellschaft, um einen sicheren Raum zu schaffen, in dem man sich selbst und andere kennenlernen kann“, erklärt sie.
Conte Roberts ist eine von tausenden jungen Menschen, die an den Aktivitäten des bekannten Programms „Dialog für den Frieden“ (DfP) teilgenommen haben. Dieses wurde gemeinsam vom Internationalen Dialogzentrum (KAICIID) und der Weltpfadfinderorganisation (WOSM) entwickelt.
Das Programm, das für und mit Hilfe von jungen Menschen geschaffen wurde, versucht, dass Dialog fixer Bestandteil der WOSM wird. So sollen für Pfadfinderinnen und Pfadfinder sowie junge Menschen auf der ganzen Welt Möglichkeiten geschaffen werden, ihre eigenen lokalen interkulturellen und interreligiösen Dialogsitzungen und Dialogansätze zu gestalten.
Durch die Teilnahme an Aktivitäten, Workshops und Trainings und durch die Demonstration ihrer Dialogfähigkeiten in der realen Welt können Pfadfinderinnen und Pfadfinder eines von drei farbigen Abzeichen erhalten. Das grüne Abzeichen steht für die "Persönliche Dialogleistung", das rote für die "Ausbildung als DialogtrainerIn" und das blaue Abzeichen für die "Berechtigung als Dialog-ModeratorIn". Jedes Abzeichen hebt einen anderen Aspekt der Kenntnisse und des Engagements einer Pfadfinderin oder eines Pfadfinders für die Förderung des Dialogs hervor.
Bis Juni 2020 haben 9.000 Menschen auf der ganzen Welt an Schulungen, Sitzungen, Workshops, Dialogkreisen und Online-Seminaren teilgenommen. Sie kamen aus allen sechs Pfadfinderregionen - Afrika, Arabischer Raum, Asien-Pazifik, Eurasien, Europa und Interamerika. Diese Veranstaltungen haben eine internationale Gruppe von 40 akkreditierten Trainerinnen und Trainern sowie Moderatorinnen und Moderatoren (Jugendliche mit roten oder blauen Abzeichen) hervorgebracht. Weitere 30 sind weltweit im Prozess der Ausbildung.
Bald werden mit Hilfe dieser für Training und Moderation ausgebildeten Jugendlichen viele Pfadfinderinnen und Pfadfinder die grünen Abzeichen des „Persönlichen Dialogs“ erhalten können. „Pfadfinderinnen und Pfadfinder im Dialog“ soll auch auf nationaler Ebene systematisch eingeführt werden, um das Programm auch in Zukunft aufrechtzuerhalten. Um sich am „Dialog für den Frieden“-Training zu beteiligen, müssen Pfadfinderinnen und Pfadfinder zuerst mit ihrer nationalen Pfadfinderorganisation (NSO) Kontakt aufnehmen.
Nun folgen Geschichten von drei ausgebildeten Dialogtrainerinnen und Moderatorinnen aus Argentinien, Tunesien und Rumänien. Sie erzählen von der globalen Wirkung des Programms. Jede Geschichte zeigt auf, wie das Programm Changemaker mit den Instrumenten versorgt, die sie benötigen, um eine Dialogkultur aufzubauen, zu Versöhnungsbemühungen beizutragen und Stereotypen in Ländern auf der ganzen Welt entgegenzuwirken.
Aufbau einer Kultur des Friedens in Buenos Aires
Conte Roberts trat im Alter von neun Jahren den Scouts de Argentina, einem Mitglied der WOSM, bei. Besonders schätzt sie die sozialen Möglichkeiten. Die angebotene Ausbildung genoss sie aber noch mehr. Insbesondere freute sie sich über die Möglichkeit für Menschen aus Argentinien, mehr über die Welt zu lernen.
Deshalb ergriff sie die Chance, an einer DfP-Ausbildung teilzunehmen. So kam sie nach Houston, im Jahr 2017 zum Jugendforum der Weltpfadfinderorganisation in Aserbaidschan und 2019 zu einer Ausbildungsveranstaltung in Panama. Überall dort interagierte Conte Roberts mit Pfadfinderinnen und Pfadfindern aus so unterschiedlichen Ländern wie dem Sudan und Schweden. Sie lernte, über kulturelle und religiöse Unterschiede hinweg ehrlich und respektvoll zu sein. So verdiente sie sich das grüne Abzeichen für „Persönlichen Dialog“. Denn sie nahm an den Aktivitäten nicht nur teil, sondern bewies auch aktiv ihr Interesse am und ihr Wissen über den Dialog.
Mittlerweile ist sie eine Botschafterin für den Dialog in Argentinien. Sie arbeitet darauf hin, eine Akkreditierung als „DialogtrainerIn“ zu erhalten. Dazu stellt sie die wesentlichen Merkmale des Dialogs unter Beweis. Aktives Zuhören, Mitgefühl und Offenheit, zu lernen und sich zu verändern; aber auch die Fähigkeit, anderen in ihrem Prozess zu helfen, den Dialog in ihr Leben zu integrieren.
Conte Roberts ist selbst nicht religiös. Doch sie meint, der Dialog schaffe einen "sicheren Raum" für religiöse Minderheiten, um offen über ihre Erfahrungen in der argentinischen Gesellschaft zu sprechen. Dies trage dazu bei, Frieden und Gerechtigkeit in der Gesellschaft als Ganzes zu fördern.
„Hier in Argentinien war Religion in der Vergangenheit ein gefährliches Thema für die Menschen“, erinnert sie sich. „Jetzt gibt es Gelegenheiten, offener zu reden, und der Dialog wird uns dabei helfen.“
Sie hofft, einen Kurs für Dialogtraining in ihrem Heimatland zu starten, denn „der Aufbau einer Kultur des Friedens ist das, was Pfadfinderinnen und Pfadfinder tun und das DfP-Programm ist eine großartige Möglichkeit, dies zu verwirklichen“, gibt sie zu verstehen.
Tunis: „Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von Friedensstifterinnen und -stiftern“
Amal Ridene, 22, ist eine talentierte Musikerin und erfolgreiche Absolventin der Tunis Business School. Kürzlich wurde sie als Analystin bei einer Private-Equity-Firma in Tunis, Tunesien, eingestellt.
Abgesehen von ihrem Fachwissen im Finanzbereich und ihren Fähigkeiten als Pianistin ist Ridene auch ein aktives Mitglied von Les Scouts Tunisiens. Sie ist auch weltweit als Jugendberaterin des Weltpfadfinderkomitees tätig. Außerdem ist sie stolze Trägerin des roten Abzeichens "DialogtrainerIn", nachdem sie im Jahr 2019 Coaching-Sitzungen und Trainings beim regionalen arabischen DfP-Training in Kairo, Ägypten, absolviert hat.
Die Teilnahme am DfP-Programm war für Ridene so interessant, weil „sie ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer großen Gemeinschaft von Friedensstifterinnen und Friedenstiftern vermittelt. Es ist eine Verantwortung, die darin besteht, das, was ich gelernt und erworben habe, mit anderen zu teilen. Es ist auch eine gemeinsame Sprache, die ich mit Menschen auf der ganzen Welt, seien es Pfadfinderinnen und Pfadfinder oder nicht, verwenden kann“, berichtet sie.
Der Prozess bis zur Verleihung des Trainerabzeichens führte sie nach Aserbaidschan, Ägypten und Indien. „Es beinhaltet die Teilnahme an Trainings, die Moderation von Sitzungen in lokalen Gruppen und regionalen Veranstaltungen und viele interessante Diskussionen mit verschiedenen Gruppen von Menschen. Es ist eine Reise, um sich selbst zu entdecken und ein Lernprozess für die Gestaltung der eigenen Trainingsfähigkeiten“, erklärt sie.
Durch das Dialogtraining lernte Ridene, dass „Offenheit eine Grundvoraussetzung für die Ausübung des Dialogs ist. Es ist auch wichtig, dass man sich der Sensibilität und der kulturellen und religiösen Überzeugungen des anderen bewusst ist“. Ob im persönlichen oder beruflichen Umfeld, sagt Ridene, Prinzipien und Werte des Dialogs ermöglichen es ihr, „dem täglichen Austausch mehr Wert beizumessen“.
Ob mit Arbeitskollegen und -kolleginnen, anderen Musikerinnen und Musikern oder Pfadfinderinnen und Pfadfindern – Ridene meint: „der Dialog ist ein entscheidendes Instrument in meiner täglichen Arbeit“.
Learning by doing in Bukarest
Die COVID-19-Pandemie zwang Menschen auf der ganzen Welt dazu, zu Hause zu bleiben, um in Sicherheit zu sein. Anca Burlacu aus Rumänien wusste in diesem Moment, dass Dialog den Menschen helfen würde, ihre psychische Gesundheit in schwierigen Zeiten zu fördern. Als die Krise ausbrach, rief Burlacu eine achtwöchige Veranstaltungsreihe von Dialogcafés für rumänische Pfadfinderleiterinnen und -leiter ins Leben.
„So bekamen Menschen auf der ganzen Welt die Möglichkeit, mit jemandem über diese schwierigen Zeiten zu sprechen“ erklärt sie. „Die Menschen hatten zum ersten Mal das Gefühl, dass sie gehört wurden und dass jemand aktiv zuhörte. Sie fühlten sich wohl dabei, ihre persönlichen Geschichten und Probleme mitzuteilen.“
Burlacu war in der Lage, in einer solchen Krise eine Vorreiterrolle zu übernehmen, nachdem sie das blaue Abzeichen als „Dialog-Moderatorin“ erhalten hatte. Dazu nahm sie an Workshops und Coachingsitzungen teil und bewies ihre Vermittlerfähigkeiten bei mehreren Gelegenheiten vor dem DfP-Team bestehend aus Delegierten von WOSM und KAICIID.
Als Teamleiterin hat Burlacu an zahlreichen Feedback-Sitzungen, Einzelgesprächen und Dialog-Trainingsveranstaltungen teilgenommen und dabei die Fähigkeiten erlernt, die nötig sind, um anderen zu helfen. „Man muss wissen, wie man gute Fragen stellt, Notizen macht und die 10 Prinzipien des Dialogs anwendet“, betont sie.
„Dialogvermittlung ist eine Fähigkeit, die man im Laufe der Zeit erwirbt und verbessert, man lernt, indem man sie ausführt“, erklärt sie.
Burlacu ist stolz auf die Gemeinschaft, die sie in den von ihr moderierten Sitzungen gebildet hat. „Gemeinschaft ist eines der wichtigsten Dinge, um den Aufbau echter Beziehungen zu unterstützen“, meint sie. „Wenn man Konflikte bewältigen und eine Gemeinschaft schaffen will, kann der Dialog dabei helfen, in einer friedlicheren Umgebung zu leben.“
Ridene und Conte Roberts haben ganz spezielle Erfahrungen mit Dialog gesammelt und stimmen mit Burlacu überein. Beide berichten, wie der Dialog ein sicheres Umfeld schafft, in dem Einzelpersonen oder Gruppen Ansichten, Wissen, Verständnis, Eindrücke und Wahrnehmungen zu einem bestimmten Thema oder einer potentiellen Konfliktquelle austauschen können.
Conte Roberts ist der Überzeugung, dass das DfP-Programm von entscheidender Bedeutung ist, vor allem in einer Welt, in der Vielfalt und Unterschiede eher zu Spaltungen, als zu Einigkeit führen. Sie meint: „Wir alle haben etwas zu sagen, und der Dialog ist ein Mittel, das uns dabei hilft, es miteinander zu sagen und zu teilen und dabei eine freiere und gerechtere Welt zu schaffen.“