Angesichts der steigenden menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Belastung durch die COVID-19-Pandemie trafen einander die Mitglieder des multireligiösen KAICIID Direktoriums am 30. Juni auf virtuellem Weg. Sie diskutierten über die Rolle von Glaubensführerinnen und -führern sowie Gemeinschaften beim "Schutz der Schwachen" – Menschen, die von der Krise besonders betroffen sind.
Zu den Anwesenden gehörten Dr. Kezevino Aram, Prof. Dr. Allahshukur Paschazade, Oberrabbiner David Rosen, Dr. Mohammad Sammak und Reverend Richard Sudworth. Sie gehören zwar unterschiedlichen Glauben an und kommen aus verschiedenen Orten und sogar Zeitzonen. Sie waren sich jedoch einig, welche Bedeutung Religionsgemeinschaften bei der Bereitstellung von karitativer, pastoraler und spiritueller Unterstützung für diejenigen, die infolge dieser Krise in Not geraten sind, zukommt. Die Anwesenden riefen auch zu stärkerer Unterstützung der interreligiösen Zusammenarbeit durch die Arbeit von Organisationen wie KAICIID auf.
Das Webinar folgte der Initiative des KAICIID Generalsekretärs Faisal Bin Muaammar, der im März 2020 einen weltweiten Aufruf zum "Schutz der von der Pandemie Betroffenen" startete. „Der Ausbruch von COVID-19 stellt die Menschheit vor eine beispiellose Herausforderung, nicht nur für diejenigen, die sich mit der Krankheit anstecken, sondern für alle, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit ihren Nebeneffekten zusammenhängen. Das sind wirtschaftliche Probleme, Arbeitslosigkeit, ein Zusammenbruch der Versorgung und die Gefahr von sozialen und politischen Unruhen und Funktionsstörungen. Ich ermutige alle, weiterhin Wege zu finden, um den universellen Ruf aller Religionen und Kulturen zu erfüllen - die Schwachen aufzusuchen und zu schützen.“
Viele Länder Asiens, Afrikas, der arabischen Region und Lateinamerikas haben mit der Eindämmung der rasch ansteigenden Infektionsraten zu kämpfen. Die Gesundheitssysteme sind über ihre Kapazitäten hinaus belastet. Gleichzeitig haben in anderen Teilen der Welt frühe Bemühungen zu einigen Erfolgen bei der Eindämmung der Epidemie geführt. Doch diese Bemühungen, die oft eine völlige Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Kontaktverbote bedeuteten, haben zu verschiedenen Arten von Verwundbarkeit geführt. Darunter sind emotionale und spirituelle Isolation, häusliche Gewalt und Missbrauch sowie wirtschaftliche Probleme, die zu einer Zunahme von Stigmatisierung und Hassrede gegen Minderheiten geführt haben. Glaubensgemeinschaften waren an vorderster Front, um all diesen verletzlichen Menschen Beistand und Führung zu geben.
In vielen Teilen der Welt verlassen sich Regierungen, die mit früheren Epidemien wie Ebola und HIV/AIDS konfrontiert waren, auf die Netzwerke und den Einfluss von Religionsgemeinschaften, um Bewusstsein für verantwortungsvolles Verhalten zu schaffen.
Glaubensgemeinschaften müssen für den inhärenten Wert des menschlichen Lebens eintreten
Dr. Aram sprach über die Arbeit ihrer Organisation in Indien, wo die Zahl der Fälle weiterhin steigt. Sie wies darauf hin, wie Glaubensführerinnen und -führer Menschen zu verantwortungsbewusstem Verhalten ermutigen, um Infektionen zu verhindern. „Eine Sache, die sich zwischen Januar und Juni nicht geändert hat, ist die Art und Weise, wie wir auf die Pandemie reagieren. Physische Distanzierung, das Tragen von Masken, die Verwendung von Desinfektionsmitteln, es scheint einfach, aber es ist schwierig. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, für diese Verhaltensänderungen zu sorgen. Deshalb spielen die Glaubensgemeinschaften eine wichtige Rolle bei der Verstärkung dieser Botschaften.“
Ausgehend von seinen Erfahrungen im Vereinigten Königreich betonte Reverend Sudworth die Rolle der religiösen Führerinnen und Führer. Diese wiesen Regierungen auf die Notwendigkeit hin, neben Zahlen und Statistiken auch den inhärenten Wert jedes einzelnen Menschenlebens bei der Bekämpfung der Pandemie zu berücksichtigen.
„Viele von uns und viele der Regierungen sahen sich mit dieser Frage konfrontiert. Ich sehe das aber als eine falsche Gleichung. Opfern wir die älteren und körperlich verletzlichen Menschen oder opfern wir die Wirtschaft? Einige unserer Kirchenoberhäupter sowie andere Glaubensführerinnen und -führer waren schon früh sehr daran interessiert, für den Wert jedes einzelnen Menschen einzutreten und ihn der Regierung zu verdeutlichen. Tatsächlich gibt es eine religiöse Stimme, die meiner Meinung nach in diesem Diskurs aufrechterhalten werden muss, da wir beginnen, zweite und weitere Ansteckungswellen zu sehen. Wir geben dem Leben der Schwachen kein Preisschild. Es gibt eine Stimme des Glaubens, die vermeiden will, Menschen in Kategorien einzuordnen, in denen sie entbehrlich sind“, so Reverend Sudworth.
„Nach der islamischen Lehre sind alle Menschen würdevoll. Wenn wir sagen, dass alle Menschen Würde haben, hat das nichts mit Religion, ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe, Kultur oder anderen Dingen zu tun. Alle Menschen haben Würde, nicht weil sie in Gott verschieden sind, sondern einfach, weil sie Menschen sind“, bekräftigte Dr. Sammak.
Mehrere der Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmer riefen Regierungen und religiöse Organisationen auf, neben dem Virus auch auf andere, systemische Faktoren zu schauen, die zu erhöhter Verwundbarkeit führen können.
Hoffnung und Unterstützung werden mehr denn je gebraucht
Da die Bildungs- und Sozialsysteme zum Erliegen gekommen sind, sind Kinder und Jugendliche besonders stark Isolation, Entbehrung und emotionaler Instabilität ausgesetzt.
„Wir wissen, dass 1,5 Milliarden Kinder zum ersten Mal in der Geschichte nicht in ihren Klassenzimmern sind. Sie sitzen zu Hause fest und können nicht mit ihren Freundinnen und Freunden spielen. In einer kürzlich durchgeführten Studie mit heranwachsenden Kindern in Shanti Ashram, stellten wir fest, dass die beiden stärksten Emotionen, auf die die Befragten hingewiesen haben, gleichzeitig Ärger und Traurigkeit waren“, berichtete Dr. Aram.
Da die Regierungen Schwierigkeiten haben, sich um gefährdete Bevölkerungsgruppen zu kümmern, haben religiöse Organisationen (FBOs) in kürzester Zeit diese Lücke gefüllt. Reverend Sudworth betonte den dramatischen Anstieg der von FBOs betriebenen Essensausgaben. Rabbi Rosen beschrieb, wie jüdische Gemeinden sich der Herausforderung gestellt haben.
„Ich bin sehr ermutigt und erfreut zu sehen, wie jüdische Sozialdienstorganisationen zu den Bedürfnissen gefährdeter Gemeinden beigetragen haben, hoffentlich über die Bedürfnisse unserer eigenen jüdischen Gemeinde hinaus. Ich würde also sagen, dass es in Bezug auf die jüdischen religiösen Sozialdienste eine sehr positive Resonanz gegeben hat, sowohl intern als auch weltweit. Aber natürlich dürfen wir uns nie mit einer Reaktion zufrieden geben, weil sie angesichts der dringenden humanitären Krise nie genug ist“, meinte der Reverend.
Alle Anwesenden sprachen auch von der Notwendigkeit, dass religiöse Führerinnen und Führer über die unmittelbaren physischen Bedürfnisse hinausgehen und den emotional und spirituell Schwachen Hoffnung, Kraft und Beistand geben müssen.
„Wir müssen die Menschen trösten, wir müssen den Glauben an Gott stärken, wir müssen ihnen Hoffnung für die Zukunft geben, und natürlich müssen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten auch moralische und finanzielle Hilfe leisten“, bekräftigte Prof. Dr. Pashazade.
Religiöse Minderheiten werden zur Zielscheibe von Hassrede
Die Instabilität nimmt weltweit zu und die von COVID-19 aufgedeckten systemischen Ungleichheiten führen zu Unzufriedenheit und Wut. Religiöse Minderheiten werden immer häufiger zur Zielscheibe von Hassrede und sogar der Aufstachelung zu Gewalt. Rabbi Rosen beschrieb dieses Phänomen im Zusammenhang mit der jüdischen Bevölkerung.
„Jedoch sind (religiöse) Gemeinschaften unverhältnismäßig stark vom Coronavirus betroffen. Sei es in Israel oder in den Vereinigten Staaten oder in England, zum Beispiel London, und anderen Orten auf der Welt, wo diese Gemeinschaften zu finden sind. Das ist ein Problem, denn zwangsläufig werden diese Gemeinschaften auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, aber sicherlich außerhalb als unverhältnismäßig stark infiziert angesehen. Daher werden sie potenziell als unverhältnismäßig infektiös betrachtet. Dies trägt natürlich zu Stereotypen und negativen Einstellungen bei, unter denen die jüdische Gemeinschaft schon immer gelitten hat und in gewisser Weise ein historisches Trauma hat, das sich durch diese besonderen Situationen noch verschärft“, mahnt Rabbi Rosen.
Dieses Phänomen, bei dem religiöse Minderheiten als "verantwortlich" für die Verbreitung des Virus dargestellt werden, hat eine lange Geschichte und ist nicht auf eine bestimmte Minderheit beschränkt.
Interreligiöse Zusammenarbeit hat daher in Krisenzeiten eine besondere Bedeutung, da Gemeinschaften aus Solidarität Kraft schöpfen, um dem Anstieg sozialer Konflikte und dem Zusammenbruch des sozialen Zusammenhalts entgegen zu treten.
„Eine Familie zu sein bedeutet, dass wir in Zeiten einer Pandemie für die anderen verantwortlich sind. Wir sind für die anderen verantwortlich - in Indien, in den Vereinigten Staaten, im Nahen Osten, in Afrika oder sonst wo. Denn alle Menschen sind Brüder und Schwestern und eine Familie“, meinte Dr. Sammak.
KAICIID unterstützt mit diversen finanziellen Zuschüssen die interreligiöse Zusammenarbeit an der Basis. Professor Mohammed Abu-Nimer beschrieb, wie die Empfängerinnen und Empfänger der KAICIID-Gelder bereits an einem breiten Spektrum interreligiöser Initiativen zur Unterstützung gefährdeter Bevölkerungsgruppen arbeiten. Dabei handelt es sich um Radiowerbung gegen Hassrede, die Bereitstellung von Nahrung und Begleitung für ältere Menschen bis hin zu Spenden für Flüchtlinge in überfüllten Lagern.