In einer seiner letzten Notizen, die Mahatma Gandhi 1948 hinterließ, schrieb er:
"Ich werde dir einen Rat geben. Erinnere dich an das Gesicht des ärmsten Mannes oder der schwächsten Frau, die du jemals gesehen hast, und frage dich, ob der Schritt, den du in Erwägung ziehst, ihm oder ihr von Nutzen sein wird. Dann wirst du feststellen, dass deine Zweifel und dein Selbst dahinschwinden."
Für Dr. S.R. Subramanian, Programm-Koordinator im Shanti Ashram in Coimbatore, Indien, ist dieses Zitat ein ständiger Begleiter, wenn er mit der schier unermesslichen Dimension der Coronavirus-Pandemie konfrontiert ist.
Die Fülle der Herausforderungen, die das Coronavirus den Armen und Schwachen auferlegt hat, belastet Subramanian schwer. Doch während er über Gandhis Weisheit sinniert, denkt er auch an den Zugang des Shanti Ashram zu den sich überlagernden Problemen, die die Pandemie mit sich bringt.
"Shanti Ashram ist ein kreatives Experimentierfeld, in dem wir zusammenkommen, um die Probleme unserer Gemeinschaft anzugehen", sagt er. "Wir kooperieren mit den Menschen, denen wir dienen, um gemeinsam Lösungen zu finden."
Die wichtigste dieser Lösungen? Impfungen!
Im Shanti Ashram ist die Impfung mehr als nur ein Mittel zur Bekämpfung einer bestimmten Krankheit. Sie ist eine Art Glücksbringer, der die Möglichkeit bietet, eine Reihe von Problemen zu lösen, so Subramanian.
"Impfungen sind für uns eine Möglichkeit, das ganzheitliche Wohlbefinden der Gemeinschaften, mit denen wir arbeiten, zu verbessern", erklärt er. "Sie sind der erste Schritt, um Einzelpersonen, Familien und religiösen Gemeinschaften dabei zu helfen, verschiedene Aspekte der Gesundheit in ihr tägliches Leben zu integrieren."
Dr. Kezevino Aram, Mitglied des Direktoriums von KAICIID, leitet den Shanti Ashram seit dem Jahr 2014 als dessen Präsidentin. Sie erklärt, dass ihr Fokus auf Impfungen aus zwei Quellen stammt: der Wissenschaft und den Schriften, die sie und andere im Ashram zu Rate ziehen. Beide weisen auf die Vielschichtigkeit von Herausforderungen wie der Coronavirus-Pandemie hin.
"Die Wissenschaft und die Schriften sagen uns, dass sich die Dinge nicht isoliert entwickeln", sagt Aram. "Sie sind mit anderen gesellschaftlichen Dynamiken wie dem körperlichen und geistigen Wohlbefinden verbunden."
"Diese Pandemie hat die Bedeutung der Gesundheit in all ihren Dimensionen deutlich gemacht: geistig, körperlich, sozial und spirituell", sagt sie.
Für Aram steht diese Definition von Gesundheit im Einklang mit der Definition der Weltgesundheitsorganisation. Shanti Ashram bekräftigt, dass Gesundheit "nicht nur die Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen" ist, und liefert lebensrettende Impfstoffe "ohne Unterschied von Herkunft, Religion, politischer Überzeugung, wirtschaftlicher oder sozialer Situation. Gleichzeitig setzt sich Shanti Ashram dafür ein, dass die Menschen in seiner Obhut "in allen Aspekten des Lebens und der Gesundheit aufblühen."
Als ausgebildete Medizinerin weiß Aram die Fortschritte zu schätzen, die die Wissenschaft bei der Bewältigung von Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit wie COVID-19 oder auch der HIV/AIDS-Pandemie erzielt hat. In ihrer Ausbildung stellte sie jedoch fest, dass die soziale und spirituelle Dimension der Gesundheit weitgehend ignoriert wird.
Aram glaubt, "dass die Coronavirus-Pandemie dazu beigetragen hat, Regierungsstellen und zwischenstaatliche Organisationen daran zu erinnern, dass der Dialog mit religiösen Gemeinschaften nicht nur äußerst wichtig, sondern absolut notwendig ist, wenn man die Wissenschaft als Mittel zum gesellschaftlichen Fortschritt einsetzt."
Das gilt insbesondere für das anhaltende Problem der Gerechtigkeit bei der Versorgung mit Impfstoffen. Während in einigen Industrieländern die dritte und vierte Runde der COVID-19-Impfung läuft, haben viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen immer noch Schwierigkeiten, ihre Bevölkerung überhaupt zu impfen.
Nach Ansicht der Vereinten Nationen (UN) wird die ungleiche Verteilung der Impfstoffe nicht nur dazu führen, dass Millionen oder Milliarden Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert sind, sondern auch "die Ungleichheit vertiefen, die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößern und Jahrzehnte hart erkämpfter Fortschritte in der menschlichen Entwicklung zunichte machen".
Aram sagt, dass der globale moralische Standard, der den Ansätzen der UN und der WHO innewohnt, nicht anspruchsvoll genug ist, um das Horten, die Verschwendung und andere Probleme zu verhindern, die zur Ungleichheit bei der Versorgung mit Impfstoffen beitragen. Ihrer Meinung nach können Religionsgemeinschaften helfen, eine ethische Grundlage zu schaffen, die den intersektionalen Charakter der Pandemie hervorhebt – nämlich die Notwendigkeit, die ganzheitliche Gesundheit und die gegenseitigen Abhängigkeiten zu berücksichtigen, sowie die Notwendigkeit, Impfstoffgerechtigkeit für alle zu thematisieren.
Auf diese Weise dienen Impfprogramme wie das des Shanti Ashram als Erinnerung daran, dass "wir, wenn Wissenschaft, Gesellschaft und Spiritualität im Dialog stehen, in der Lage sind, den Menschen eine viel umfassendere Antwort auf die Fragen des Lebens zu geben als eine fragmentarische Lösung", sagt sie.
Monica Cristina, eine Mitarbeiterin des Shanti Ashrams, erklärt, dass eine Facette dieser Ungerechtigkeit, die man zu beheben versuche, die geschlechtsspezifische Kluft sei.
Cristina erklärt, dass auf 1.000 geimpfte Männer in Indien nur 954 Frauen kommen. "Das ist eine große Lücke." Dafür gebe es mehrere Gründe, so Cristina. Zum einen hätten Männer durch die Institutionen, mit denen sie zusammenarbeiten, einen besseren Zugang zu Impfstoffen, zum anderen könnten es sich viele Frauen nicht leisten, einen Tag von der Betreuung ihrer Familien freizunehmen, um sich impfen zu lassen.
Mit seinem Programm "Impfen für alle" setzt der Ashram eine Kombination aus Mobilisierung der Bevölkerung, öffentlichen und privaten Partnerschaften und interreligiöser Zusammenarbeit ein, um die zögerliche Haltung gegenüber Impfungen zu verändern und die am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu erreichen – wie Arme, Menschen mit Risiko- und Begleiterkrankungen sowie Frauen.
"Indem sich Shanti Ashram direkt an die Menschen in der Umgebung von Combiatore wendet und ihre größten Sorgen und Fragen im Dialog aufgreift, erreicht es diejenigen, die von institutionellen Impfprogrammen nicht erreicht werden", so Cristina.
Bisher konnte Shanti Ashram 3.320 Menschen bei 43 Terminen in Krankenhäusern, in ihren eigenen Einrichtungen und durch einen mobilen Dienst impfen, ohne eine einzige Dosis des Impfstoffs zu verschwenden.
Der Dialog mit anderen religiösen Partnerorganisationen war der Schlüssel zum Erfolg des Programms. In Zusammenarbeit mit lokalen hinduistischen, muslimischen und christlichen Gemeinschaften begegnet man laut Subramanian "gemeinsam der zögerlichen Haltung der gefährdeten Bevölkerungsgruppen gegenüber Impfstoffen".
Diese Arbeit wurde durch die kontinuierliche Unterstützung und Partnerschaft von KAICIID ermöglicht, sagt Subramanian. "KAICIID und Shanti Ashram verbindet eine lange und produktive Partnerschaft." Durch Inspiration und Unterstützung der interreligiösen Zusammenarbeit hat KAICIID dem Shanti Ashram geholfen, gemeinsame Ziele mit anderen Religionsgemeinschaften zu erreichen.
"Als gandhianische Organisation arbeiten wir mit jeder Institution zusammen, die gemeinsame Ziele verfolgt, um die Arbeit zu bewältigen", so Subramanian.
Diese Bereitschaft, verschiedene Interessengruppen zusammenzubringen, um die dringendsten Probleme der Menschheit zu lösen – sei es eine Pandemie oder der Klimawandel, Hassrede oder gewalttätige Konflikte – erinnert Subramanian und seine Kolleginnen und Kollegen im Shanti Ashram an ein weiteres Gandhi-Zitat.
"Gandhi sagte: 'Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun'", zitiert Subramanian. "Was wir heute tun, ist, Menschen zusammenzubringen, um Informationen auszutauschen, eine gemeinsame Linie zu finden und Probleme zu lösen."
"Dies ist unsere allgemeingültige Politik und Strategie, für Impfungen und jedes andere Problem, mit dem wir konfrontiert werden", sagt er.