Im Jahr 2020 erschütterte die Coronavirus-Pandemie die arabische Welt und verschärfte in vielen Ländern jahrzehntelange Probleme wie anhaltende Konflikte, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Armut und Menschenrechtsprobleme.
In Palästina verschlimmerte die Pandemie die ohnehin schon katastrophale wirtschaftliche Lage und brachte die Kapazitäten für Soforthilfemaßnahmen an ihre Grenzen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen waren palästinensische Frauen unverhältnismäßig stark von der Pandemie betroffen. Sie waren häufiger von Arbeitslosigkeit und geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht und engagierten sich weniger stark in der Politik und in der Gemeinschaft, um die humanitäre Reaktion auf das Virus zu gestalten. Viele Frauenorganisationen berichteten zudem von drastischen Kürzungen ihrer finanziellen Mittel, so dass sie in einer Zeit, in der sie am dringendsten gebraucht wurden, von der Schließung bedroht waren.
Angesichts dieser immensen Herausforderungen hat Fidaa Abu-Turkey, Vorsitzende der in Palästina ansässigen Organisation IRADAH, rund 100 palästinensische Frauen mit unterschiedlichem religiösem Hintergrund mobilisiert, um die humanitäre und politische Reaktion auf die Pandemie zu gestalten. Ihre Organisation setzt sich für die wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe von Frauen und die Wahrung ihrer Menschenrechte ein.
Abu-Turkeys Initiative wurde von KAICIIDs Projekt „Dialogue 60“ finanziell unterstützt, das im Jahr 2020 unter dem Dach der Interreligiösen Plattform für Dialog und Zusammenarbeit in der arabischen Welt (IPDC) ins Leben gerufen wurde. Die Dialogue-60-Projekte befassen sich mit COVID-19, der Bekämpfung von Hassrede oder der Förderung der gemeinsamen Bürgerschaft durch interreligiöse Bildung und Sensibilisierung. Bislang haben 44 Organisationen und 16 Personen in der gesamten arabischen Welt Initiativen durchgeführt.
Abu-Turkey zufolge war ihr Projekt „die erste zivilgesellschaftliche Initiative, die auf die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen von COVID-19 in Palästina reagierte und sich hauptsächlich auf palästinensische Flüchtlingslager im Westjordanland konzentrierte“.
Religiöse Führerinnen mit unterschiedlichem Hintergrund, darunter Christinnen, Musliminnen und Samaritanerinnen, kamen zusammen. Die Teilnehmerinnen hatten die Aufgabe, das Bewusstsein für die Rolle der Frauen bei der Eindämmung von COVID-19 zu schärfen. Außerdem verteilten sie Pakete mit Seifen, Masken und anderen lebenswichtigen Gütern.
Abu-Turkey nutzte vor allem Fernseh- und Radiointerviews mit religiösen Frauen, um für ihre Initiative zu werben und über die sozialen und gesundheitlichen Folgen von COVID-19 zu sprechen. „Der Einsatz von Fernsehen und Radio als Mittel, um über die Initiative zu sprechen, war für IRADAH sehr wichtig, da die Menschen während der Pandemie nicht in der Lage waren, sich physisch zu versammeln. Es war wichtig, sie über diese Kanäle zu erreichen.“
Neben der humanitären Hilfe hielt Abu-Turkey auch fünf Dialogsitzungen ab, in denen die Beteiligung von Frauen an der politischen Entscheidungsfindung sowie die wichtige Rolle religiöser Frauen bei der Bekämpfung der langfristigen Auswirkungen von COVID-19 auf marginalisierte Gemeinschaften erörtert wurden. Dazu zählten Arbeitslosigkeit, Hassrede, geschlechtsspezifischer Gewalt und Hindernisse im Bildungswesen.
Im Anschluss an die Dialogsitzungen erarbeiteten die Teilnehmerinnen ein Strategiepapier, das von 300 weiblichen Führungspersönlichkeiten, religiösen Akteurinnen, kommunalen und politischen Führerinnen sowie Medienvertreterinnen unterzeichnet wurde. Zu den Empfehlungen gehörten die Einrichtung eines ständigen Büros in Palästina, das sich monatlich mit den Bedürfnissen besonders betroffener Frauen befasst; die Verbesserung von Sozialdiensten, die nicht auf religiösen oder ideologischen Grundsätzen beruhen; die Nutzung verschiedener religiöser Plattformen (muslimisch, christlich und samaritanisch), um Hassrede gegen Frauen einzudämmen, insbesondere angesichts der Pandemie, sowie die Aufforderung an das Bildungsministerium, Lehrpläne einzuführen, die religiöse Toleranz fördern und Extremismus ablehnen.
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In Somalia stand Radio Daljir, das größte Netz von UKW-Sendern des Landes, vor einer anderen Art von Herausforderung. Trotz der Anweisung hochrangiger muslimischer Führer, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen und sich sozial zu distanzieren, tauchten Berichte auf, dass einige Moscheen ihre Gläubigen darüber informiert hatten, muslimische Gläubige seien gegen COVID-19 immun.
„Zu Beginn der Pandemie wurden in den sozialen Medien Gerüchte und Fake News verbreitet, die besagten, dass das Coronavirus weder Muslime noch Afrikaner betreffe. Es handele sich um eine Krankheit, die Gott für 'Ungläubige' vorgesehen habe“, berichtet ein Vertreter des Radiosenders, der anonym bleiben wollte.
Als Reaktion auf die Desinformation startete Radio Daljir eine Dialogue-60-Initiative mit dem Titel „COVID-19 ist keine Krankheit für andere Religionen“. Dem Vertreter des Senders zufolge „sind die Menschen in Somalia auf Erzählungen angewiesen, da das Land die höchste Analphabetenrate unter den afrikanischen Ländern hat. Die Leitung des Senders fühlte sich verantwortlich, Programme zu erstellen, um Fake News über die Pandemie entgegenzuwirken.“
Sechs Monate lang hat Radio Daljir regelmäßig Sendungen ausgestrahlt, die eine zuverlässige Quelle für Informationen über die Gesundheitskrise waren. „COVID-19 betrifft alle Menschen, unabhängig von ihrem Glauben oder Hautfarbe“, so der Vertreter des Senders.
In der Sendung kamen Gäste zu Wort, darunter örtliche Gemeindevorsteher und Religionsführer, die betonten, dass COVID-19 nichtdiskriminierend sei und muslimische ebenso wie nicht muslimische Menschen betreffen könne. Außerdem wurden Ärztinnen und Ärzte sowie medizinische Fachleute eingeladen, die über die Auswirkungen und die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus sprachen. Politikerinnen und Politiker erläuterten die Pläne zur Reaktion und Präventionsmaßnahmen.
Die Sendungen erreichten etwa zwei Millionen Menschen in Somalia durch 15 Radioprogramme und fünf öffentliche Einschaltungen, die im Radio und online ausgestrahlt wurden.
Hani Dawah, Mitglied des IPDC-Vorstands, das das Projekt Dialogue 60 sponsert, ist der Ansicht, dass glaubensbasierte Organisationen und religiöse Akteurinnen und Akteure eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der negativen sozialen Auswirkungen der Pandemie spielen, wie die Initiativen von IRADAH und Radio Dalijir zeigen.
„Obwohl die Pandemie negative Auswirkungen auf alle Aspekte des Lebens hatte, brachte sie die Menschen zusammen, religiöse Führerinnen und Führer bündelten ihre Bemühungen, um darauf zu reagieren.“
Im Jahr 2020 umfasste das Dialogprojekt 60 Initiativen in 15 Ländern der arabischen Welt, darunter 186 Schulungs- und Dialogveranstaltungen, 24 Sensibilisierungs- und Advocacy-Kampagnen und die Entwicklung einer Handy-App. Die Initiativen kamen 8099 Menschen direkt zugute und erreichten mehr als 5,5 Millionen Menschen über Radio, Video und soziale Medien.
Aufgrund ihres Erfolges haben sich sowohl IRADAH als auch Radio Dalijir eine erneute Förderung für das Jahr 2021 gesichert.
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