Dem Verlust gemeinsam gedenken: Muslimische und jüdische Gemeinschaften begehen den internationalen Holocaust-Gedenktag

27 Januar 2021

Bei einer Veranstaltung zum Internationalen Holocaust-Gedenktag via Facebook Live schaltete Rabbiner Lody van de Kamp sein Mikrofon ein und wandte sich feierlich an sein Publikum auf der ganzen Welt:

„Ich spreche heute im Namen von zwei kleinen Kindern, die ich nie kennengelernt habe; Brüder, deren Namen ich trage. Sie wurden in Auschwitz ermordet, zusammen mit anderen Familienmitgliedern, die nie mehr in die Niederlande zurückkehrten, nachdem sie in Konzentrationslager verschleppt worden waren.“

Es gibt Momente in der Geschichte, die Menschen aller Religionen und Kulturen miteinander verbinden. Das kann das Feiern menschlicher Leistungen und des Guten sein, aber auch die erschütternden Konsequenzen des menschlichen Bösen. 

Die Tragödie des Holocausts und die Verluste haben den europäischen Jüdinnen und Juden enge Verbündete gebracht. Muslimische Gemeinschaften wissen nur allzu gut, wie Hassrede Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auslösen kann.

Nermin Fazlagic, Präsident der Islamischen Gemeinschaft der Bosniaken in Italien (CIBI), floh in den 1990er Jahren mit seiner Familie vor dem brutalen ethnischen und religiösen Konflikt in Bosnien-Herzegowina. Im Jahr 1995 verfolgte er mit Entsetzen die Nachrichten über das Massaker an 8.000 bosnischen muslimischen Männern und Jungen in Srebrenica.

In Zusammenarbeit mit der Islamischen Religionsgemeinschaft in Italien (COREIS) haben Fazlagic und CIBI am vergangenen Sonntag eine besondere virtuelle Veranstaltung abgehalten. Prominente jüdische und muslimische Führungspersönlichkeiten waren geladen, um gemeinsam den Internationalen Holocaust-Gedenktag zu begehen.

Dem Hass entgegentreten

Fazlagic sprach aus eigener Erfahrung und warnte die virtuell Anwesenden, dass „Völkermord nicht nur das Ergebnis von Konflikten ist, die über Generationen andauern, sondern schnell ausgelöst werden kann“.

„Wir müssen immer wachsam bleiben. Es braucht Bewusstsein und fortlaufende Anstrengungen, um eine Wiederholung zu verhindern“, so Fazlagic.

Der Moderator der Veranstaltung und COREIS-Präsident Imam Yahya Pallavicini fügte hinzu, dass das Zusammentreffen nicht nur ein Gedenken sei, „sondern es auch darum geht, Gräueltaten in Zukunft zu verhindern“.

Dieser Zusammenhalt war vielleicht nie dringlicher als inmitten einer globalen Pandemie, die nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) von ansteigendem Antisemitismus und Islamophobie sowie Aufrufen zur Gewalt gegen Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten geprägt ist.

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Imam Pallavicini speaks at an International Holocaust Remembrance day event

Anfang des Monats startete KAICIID eine Online-Kampagne, um das Bewusstsein für diese Eskalation von Hassrede zu schärfen, die nur 76 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau stattfindet.

Auf dieser Grundlage richtete KAICIID-Generalsekretär Faisal bin Muaammar, der eingeladen war, die Eröffnungsrede zu halten, eine direkte Aufforderung an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer: „Wir müssen uns fragen: Sind unsere Institutionen, unsere Gesellschaften, unsere Gemeinschaften stark genug, um diesem Anstieg des Hasses zu widerstehen? Können wir unser Versprechen von 'Niemals vergessen' einhalten?“

„Niemals vergessen“: künftige Gräueltaten verhindern

Seit mehr als sieben Jahrzehnten prägt die Phrase „Niemals vergessen“ das Gedenken an die Verbrechen des Holocaust. Eine Umfrage der Anti-Diffamierungs-Liga (ADL) aus dem Jahr 2014 ergab jedoch, dass die Menschheit dazu verdammt sein könnte, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Fast 54 Prozent der heutigen Weltbevölkerung hat noch nie vom Holocaust gehört und nur ein Drittel glaubt, dass die historischen Berichte darüber korrekt sind.

Aufgrund der weit verbreiteten Unkenntnis über die Gräueltaten haben die UN-Mitgliedsstaaten und verschiedene internationale Organisationen die Notwendigkeit von Bildungsprogrammen betont, um die Erinnerung an die Todeslager wach zu halten und zu verhindern, dass sich der Völkermord wiederholt.

Im Jahr 2005 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, die den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, zum Internationalen Holocaust-Gedenktag erklärte.

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Muslim and Jewish leaders participate in a Zoom meeting for Holocaust Remembrance Day

Laut bin Muaammar sind dies die ersten von vielen Schritten, die unternommen werden müssen, um sicherzustellen, dass solche Gräueltaten nie wieder geschehen. „Wir können nicht damit aufhören oder uns ausruhen, bis wir sicher sein können, dass kein Mensch gezwungen ist, Angst, Verlust oder die Verweigerung von Rechten aufgrund seiner Identität oder religiösen Überzeugung zu erfahren.“

„Was einer Minderheit widerfahren ist, kann morgen einer anderen Minderheit widerfahren.“

Im Jahr 2016 unterstützte KAICIID die Gründung des Muslim Jewish Leadership Council (MJLC), der bei Themen wie Islamophobie, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Europa sowie bei gemeinsamen Anliegen jüdischer und muslimischer Gemeinden zusammenarbeitet.

Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und Co-Präsident des MJLC, meinte in Richtung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung zum Holocaust-Gedenken, eine Sorge sei, dass es keine Garantie dafür gebe, dass sich schwere Hassverbrechen nicht mehr wiederholen.

„Was einmal einer Minderheit widerfahren ist, kann morgen einer anderen Minderheit widerfahren. Wenn wir zusammenarbeiten, uns gemeinsam erinnern und nein zu Hass, nein zu Rassismus sagen, ist das der einzige Weg, um sicherzustellen, dass diese schrecklichen Taten nie wieder geschehen.“

Rabbiner van de Kamp, der auch Mitglied der MJLC ist, wies auf effektive Partnerschaften in den Niederlanden zwischen muslimischen und jüdischen Gemeinschaften hin, die mit Schulen, Regierungsbehörden und religiösen Institutionen zusammenarbeiten, um Hass und Diskriminierung zu bekämpfen. Diese Gemeinschaften „wachsen Schritt für Schritt zusammen, leben jeden Tag in Einheit und bauen ein gemeinsames Kollektiv auf.“  

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Cheif Rabbi David Rosen speaks from his home on International Holocaust Remembrance Day

Laut Prof. Nedzad Grabus, Großmufti von Slowenien und ein Co-Präsident des MJLC, ist ein Teil des Prozesses des Zusammenwachsens der Versuch, sowohl zu verstehen, was in der Vergangenheit geschah, als auch, was heute mit Menschen anderer Glaubensrichtungen geschieht. 

„Religiöse Persönlichkeiten müssen über die UN-Resolution hinaus lernen, wie unsere Mitmenschen in den Gemeinschaften über diese schrecklichen Gräueltaten denken“, so Grabus.

In den letzten Jahren haben muslimische Führer versucht, genau das zu tun - ihren jüdischen Kolleginnen und Kollegen zuzuhören und ihre Solidarität mit ihnen auszudrücken. Im Jahr 2020 besuchte Dr. Mohammad Al-Issa, Generalsekretär der Islamischen Weltliga (MWL) und ehemaliger saudischer Justizminister, zusammen mit hochrangigen jüdischen Persönlichkeiten Auschwitz zu Ehren des 75. Jahrestages der Befreiung des Lagers.

Oberrabbiner David Rosen, Internationaler Direktor für interreligiöse Angelegenheiten des American Jewish Committee und Direktoriumsmitglied von KAICIID, glaubt, dass Akte der Solidarität und des geteilten Leids wichtig sind, um „Freundschaft, Brüderlichkeit und Frieden zu fördern“.

„Um wirklich füreinander zu sorgen, müssen wir die Quellen des Schmerzes der anderen kennen.“

Laut Rosen zeigen das „unsere muslimischen Brüder und Schwestern, indem sie eine interreligiöse Holocaust-Gedenkveranstaltung ausrichten“.

„Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, ob es jemals ein Gedenken an die Shoah gegeben hat, das von muslimischen Organisationen ausging.“ Allein aus diesem Grund sei diese Veranstaltung „wirklich historisch“.

Möchten Sie mehr darüber erfahren, was religiöse Persönlichkeiten tun können, um Hassrede entgegenzutreten und Gräueltaten zu verhindern? Laden Sie den von KAICIID unterstützten UN-Aktionsplan für religiöse Führer und Akteure zur Verhinderung von Anstiftung zu Gewalt, die zu Gräueltaten führen könnte, herunter.