Angesichts einer weltweiten Pandemie und zunehmender Gewalt gegen Minderheiten rief der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, im Mai letzten Jahres dazu auf, Hassrede im Zusammenhang mit COVID-19 zu beenden.
Damals hatte die erste Welle der Pandemie bereits einen Tsunami von Hass und Fremdenfeindlichkeit, Sündenbockdenken und Panikmache“ in Ländern auf der ganzen Welt ausgelöst, wie Guterres ausführt.
In der Zentralafrikanischen Republik sahen sich die Vereinten Nationen aufgrund von Gewaltandrohungen gegen ausländische Sicherheitskräfte aus Angst vor einer COVID-19-Infektion gezwungen, den innerstaatlichen Reiseverkehr für Friedenstruppen auszusetzen und zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz des internationalen Personals zu ergreifen.
In Tel Aviv warnten Forscherinnen und Forscher vor einer Zunahme antisemitischer Äußerungen, die durch Verschwörungserzählungen rund um das Coronavirus ausgelöst wurden. Im Vereinigten Königreich, in Indien und Sri Lanka richtete sich der Hass im Internet gegen muslimische Gemeinschaften. Weltweit dokumentierten die Vereinten Nationen zahlreiche falsche Behauptungen, dass Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten die Quelle des Virus seien.
Neun Monate später nimmt Hassrede gegen religiöse und ethnische Gruppen im Zusammenhang mit dem Coronavirus immer noch zu, während die Welt mit einem erneuten Anstieg der Infektionen konfrontiert ist.
„Ethnische oder religiöse Minderheiten werden weiterhin Ziel von Hassrede sein, solange diese Pandemie anhält und der Hass nicht abnimmt“, warnt Simona Cruciani, Referentin für politische Angelegenheiten im Büro der Vereinten Nationen für die Verhütung von Völkermord und Schutzverantwortung (OSAPG).
„Auf Grundlage unserer Recherchen und Analysen macht uns die aktuelle Situation große Sorgen. Wir haben erlebt, dass politische Führungskräfte das Coronavirus als 'chinesisches Virus' bezeichnet haben. Wir sehen eine Zunahme von Antisemitismus und antimuslimischen Hasses. Menschen aus diesen religiösen Gruppen werden beschuldigt, das Virus zu verbreiten.“
Im Mai 2020 veröffentlichte OSAPG einen Leitfaden zum Umgang mit und zur Bekämpfung von Hassrede im Zusammenhang mit COVID-19. Das Dokument bezeichnet religiöse Führungskräfte und Glaubensakteure als einflussreiche Persönlichkeiten, die sich aktiv „gegen Hassrede, Fehl- und Falschinformation sowie Verschwörungsmythen rund um das Coronavirus“ aussprechen.
„Wir glauben wirklich, dass diese Menschen eine wesentliche Rolle für die drei Säulen der Vereinten Nationen spielen, die Frieden und Sicherheit, Menschenrechte und Entwicklung sind“, so Cruciani.
Nach der Veröffentlichung des Leitfadens führte OSAPG zusammen mit der Allianz der Zivilisationen der Vereinten Nationen (UNAOC) und dem Büro des Hochkommissars für Menschenrechte (OHCHR) eine virtuelle Konsultation mit religiösen Führerinnen und Führern sowie glaubensbasierten Organisationen durch. Diese führte zu einer globalen Initiative zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie.
Die Unterzeichner des Dokuments verpflichteten sich, „gegen Hassrede und Hassverbrechen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und alle anderen Formen der Diskriminierung aufzutreten“.
„Für uns hat das höchste Priorität“, bestätigt Cruciani.
Die Gründung der Initiative folgte auf zwei wegweisende Dokumente der Vereinten Nationen, die verstärktes Engagement von Glaubensgemeinschaften forderten, um Hassreden und Anstiftung zu Gewalt zu stoppen. Das erste wurde im Jahr 2017 von Generalsekretär Guterres veröffentlicht. Es war ein Aktionsplan, der mit der Unterstützung von KAICIID entwickelt wurde, um religiösen Führungspersönlichkeiten zu helfen, Gräueltaten zu verhindern. Das zweite Dokument, das im Juni 2019 veröffentlicht wurde, war eine Strategie und ein Aktionsplan zu Hassrede. Der Plan thematisierte die zunehmende Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz, insbesondere gegen Glaubensgemeinschaften.
Beide Dokumente nennen Hassrede als oftmaligen Vorläufer von Gräueltaten, einschließlich Völkermord, wie die Geschichte von Ruanda über die Massengräber in Srebrenica bis zu den Killing Fields in Kambodscha gezeigt hat.
Cruciani glaubt, dass Aktionspläne wichtig sind, weil Hassrede oft eine Grauzone innerhalb des internationalen Rechts ist. Anstatt Hassrede direkt zu verbieten, verbietet das Völkerrecht die „Anstiftung zu Diskriminierung, Feindseligkeit und Gewalt“. Die Entscheidung, ob Hassrede, die unter den Tatbestand der Anstiftung fällt, strafrechtlich verfolgt wird, bleibt den Staaten überlassen. Viele Regierungen hatten Probleme damit, ein Gleichgewicht zwischen Rechenschaftspflicht und Meinungsfreiheit herzustellen.
„Dies ist in vielen Kontexten bereits traurige Realität“, so Cruciani. „Politik und Praktiken zur Bekämpfung von Hassrede müssen im Einklang mit den Menschenrechten stehen. Aber wir sehen, dass in Fällen, in denen Staaten Gesetze gegen Hassrede umsetzen, die nicht unter den Straftatbestand der Anstiftung fallen, dieselben Gesetze dazu benutzt werden können, die Meinungs- und Redefreiheit einzuschränken. Deshalb sollte Hassrede mit mehr Worten bekämpft werden, indem man Gegennarrative verbreitet und internationale Menschenrechtsstandards aufrechterhält.“
Letzten Monat hat die Europäische Kommission ihre eigene Gesetzgebung vorgestellt, die illegale Inhalte und Desinformation im Internet bekämpfen und gleichzeitig die Meinungsfreiheit respektieren soll. Wird der Digital Services Act verabschiedet, würde er anderen Maßnahmen auf EU-Ebene folgen, wie dem Verhaltenskodex zur Bekämpfung illegaler Hassrede im Internet.
Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) will eine Reihe von Leitlinien einführen, um Anzeigen von Hass im Netz zu fördern.
„Dies ist ein zentrales Element im Kampf gegen Hass: solche Vorfälle müssen gemeldet werden, wenn sie untersucht und strafrechtlich verfolgt werden sollen“, erklärt Michael O'Flaherty, Vorsitzender der FRA.
Seit Beginn der Pandemie hat die FRA regelmäßig Berichte veröffentlicht, in denen die Auswirkungen von Hassrede rund um das Coronavirus analysiert werden. Laut O'Flaherty spielen glaubensbasierte Organisationen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, das Bewusstsein für Hassrede zu schärfen und die Opfer zu unterstützen.
„Oft zögern Menschen aus verschiedenen Gründen, Vorfälle den Behörden zu melden und sind eher bereit, sich auf vertrauenswürdige Gemeindeorganisationen zu verlassen“, berichtet er.
Basierend auf den von der FRA gesammelten Erkenntnissen glaubt O'Flaherty, dass soziale Medien bei der Bekämpfung von Hassrede genauso nützlich sein können, wie bei deren Förderung.
„Soziale Medien haben das Potenzial, Hass zu verbreiten, aber auch, positive Geschichten zu erzählen. Unsere Berichte zeigen, wie zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschen asiatischer Herkunft soziale Medien nutzen, um auf Hassrede zu reagieren. Sie sammeln Informationen über fremdenfeindliche Vorfälle und schaffen Bewusstsein.“
KAICIID Fellow Stephen Ojapah hat diese Erfahrung in seinem Heimatland Nigeria gemacht, wo die Pandemie sozioökonomische Unterschiede noch vergrößert hat. Außerdem nehmen Spannungen in Gemeinden, die durch Aufwiegelung und Gewalt gespalten sind, weiter zu.
Ojapah ist katholischer Priester in einer Diözese im überwiegend muslimischen Bundesstaat Sokoto und Mitglied des von KAICIID unterstützten Interfaith Dialogue Forum for Peace (IDFP). Er hat in den letzten Jahren mit christlichen und muslimischen Führungspersönlichkeiten zusammengearbeitet, um soziale Medien zu nutzen und Hass entgegenzuwirken. Besonders wichtig war das während politischer Wahlen, die oft Desinformationskampagnen und Ausbrüche religiöser und ethnischer Gewalt auslösen.
„Vor den Wahlen 2019 waren die sozialen Medien voll mit Hass, der sich gegen christliche oder muslimische Gemeinschaften richtete“, berichtet er.
Diese Spannungen haben sich im Jahr 2020 mit Ausbruch der Pandemie noch weiter verschärft. In der Hoffnung, seinen Einfluss in der Gemeinschaft für Frieden nutzen zu können, schloss sich Ojapah einer Aufklärungskampagne zum Thema Coronavirus an. Diese wurde vom Kukah Center, einem in Nigeria ansässigen politischen Institut, organisiert.
„Wir haben Missbrauch von sozialen Medien im Zusammenhang mit dem Coronavirus gesehen. Aber die Bevölkerung hat soziale Medien auch genutzt, um den Auswirkungen von Hassrede entgegenzuwirken. Mit kontinuierlicher Arbeit können wir bestimmt ein positives Gleichgewicht schaffen“, so Ojapah.
Zu Beginn der Pandemie machten mehrere politische und religiöse Führungskräfte ihre Rivalen für die Ausbreitung des Virus verantwortlich. Doch Ojapah glaubt, dass Aufklärungskampagnen in den sozialen Medien geholfen haben, die Verbreitung von Falschinformationen und Hassrede einzudämmen.
„In der Anfangsphase gab es ein Problem, denn es wurden viele falsche Informationen verbreitet. Aber wir nutzten die sozialen Medien als Werkzeug, um diese Meldungen zu korrigieren. Irgendwann hatten wir die religiösen Führerinnen und Führer auf unserer Seite – das hat enorm geholfen.“
Möchten Sie mehr darüber erfahren, was religiöse Persönlichkeiten tun können, um Hassrede zu stoppen und Gräueltaten zu verhindern? Laden Sie den von KAICIID unterstützten UN-Aktionsplan für religiöse Führer und Akteure zur Verhinderung von Anstiftung zu Gewalt, die zu Gräueltaten führen könnte, herunter.