Dies ist ein Gastartikel, der ursprünglich am 6. November 2020 in Der Standard veröffentlicht wurde. Ein Nachruf für die 44-jährige Frau, die während des Terroranschlags in Wien am 2. November getötet wurde, geschrieben von Irmgard P., der Schwester des Opfers.
"Leg die Waffen weg und setz dich her zu mir": Irmgard P. erinnert sich an eines der Opfer des Terroranschlags von Wien – ihre Schwester
Ein Nachruf für jene 44-jährige Frau, die am Montag getötet wurde.
Am 2. November so gegen 20 Uhr waren fünf Personen zur falschen Zeit am falschen Ort. Alle fünf sind jetzt tot, eine davon war meine Schwester.
Gudrun war eigentlich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort, sie war in einer gut gelaunten Runde von Kollegen auf ein After-Work-Bier. Sie war entspannt und fröhlich, noch mal die Gelegenheit nutzend, an einem lauen Herbstabend bei einem Bier nach einem Arbeitstag mit Kollegen zusammenzusitzen. Ort und Zeit waren für sie schon sehr okay. Neben all den vielen anderen Menschen war auch ein junger Mann in der Nähe, der offensichtlich für sich nur noch den Weg als einzig möglichen gesehen hat, schwer bewaffnet und um sich schießend möglichst viele Menschen zu töten, bevor er selbst getötet wird. Die beiden sind aufeinandergetroffen – und jetzt trauern wir, um eine "ältere Dame".
Für Schwächere eingesetzt
Die ältere Dame, die 44-jährige Frau, von der nun berichtet wird, das zweite weibliche Opfer, war meine Schwester, aber sie war so viel mehr. Sie war eine liebende Lebenspartnerin, Tochter, Schwester, Enkelin, Nichte, Tante, Cousine – und sie war sehr, sehr vielen Menschen eine gute Freundin. Sie war eine geschätzte Mitarbeiterin und eine beliebte Kollegin. Sie hat sich seit ihrer Kindheit für Schwächere eingesetzt, sie war sehr engagiert im Schutz von Frauen vor Gewalt. Sie war eine große Verfechterin von Toleranz, sie war Betriebsrätin, sie war Mediatorin und wollte immer vermitteln. Für sie war ein Mensch in erster Linie ein Mensch, Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, gesellschaftlicher Stand, Aussehen, Glaube, Ansichten, Vorlieben waren nebensächlich und alles okay, solange kein anderer Mensch dadurch verletzt, gekränkt oder herabgewürdigt wurde.
Weil sie am 2. November war, wo sie war, muss ich jetzt ihr Begräbnis organisieren. Wäre sie nicht dort gewesen, würden wir nun möglicherweise zu zweit zusammensitzen und uns darüber austauschen, was da passiert ist, im ersten Bezirk, gleich neben ihrem Büro. Ich denke darüber nach, was wohl ihre Meinung gewesen wäre.
Sie hätte gesagt, dass Wut, Hass, Ausgrenzung, Nulltoleranz, Gewalt niemals Teil einer Lösung sein können, aber dass sie sehr oft Teil des Problems sind. Wir hätten uns erinnert, wie schwierig es war in jungen Jahren, unseren Weg zu finden, und dass wir eigentlich das Glück hatten, immer Menschen um uns zu haben, die uns Wege gezeigt haben, die nicht nur mit Gewalt begangen werden können. Dass wir Teil einer liebenden Familie waren, anerkannte Mitglieder von Klassen, Gruppen, Freunden und Vereinen. Wir wurden gesehen, anerkannt und in unserer Persönlichkeit wertgeschätzt.
Wir haben Bildung erhalten, die es uns ermöglicht hat, Vorbilder für ein friedliches Zusammenleben zu finden, die uns mutig gemacht, aber auch wachsam und achtsam gegen Beeinflussung. Wir durften in einem Umfeld aufwachsen, das uns gelehrt hat, uns nicht zum Spielball von Mächtigen und Manipulatoren machen zu lassen. Hätte meine Schwester die Macht gehabt, sich auszusuchen, wie sie in dieser Situation handeln könnte, hätte sie sich gewünscht, diesem jungen Menschen sicher vor Kugeln gegenübertreten zu können. Sie hätte ihn sicher ziemlich forsch angesprochen und gesagt: "Hör sofort auf mit dem Scheiß, das ist doch Blödsinn. Leg die Waffen weg und setz dich her zu mir. Erzähl mir, was dich so wütend macht." Und ich weiß, sie hätte so lange mit ihm geredet, diskutiert und gestritten, bis er gesehen hätte, es gibt viele Wege für ihn und nicht nur diesen einen. Aber niemals hätte sie gesagt "Schleich di, Oaschloch".
"Bietet Hilfe an"
Wenn meine Schwester noch sprechen könnte, sie würde sich für die Anteilnahme bedanken. Aber als Nächstes würde sie sagen, ihr nützt diese Anteilnahme nichts mehr. Sie würde euch bitten, eure Anteilnahme den Lebenden zu geben, die sie brauchen. Sie würde euch bitten, wo immer es euch auch in eurem Umfeld möglich ist, grenzt nicht aus, sondern integriert, beantwortet Aggression nicht mit Aggression, sondern mit einem deutlichen "Stopp, so nicht", und dann bietet Hilfe an. Die Welt könnt ihr nicht ändern, euer Verhalten aber schon.
Alle, die sie gekannt und geliebt haben, werden sie ganz furchtbar vermissen, die meisten von uns werden aber deswegen nicht mit Hass auf den Menschen reagieren, der sie mit in den Tod genommen hat. Wenn ihr meine Schwestern und ihr Andenken ehren wollt, dann bitte ich euch alle, auch nicht mit Hass und Ausgrenzung zu reagieren, das würde alles, wofür sie gestanden ist, gelebt hat und eingetreten ist, mit Füßen treten. (Irmgard P., 6.11.2020)
Irmgard P. ist die Schwester eines der Opfer des Terroranschlags vom Montagabend in Wien. Ihr Name ist der Redaktion bekannt.
Der Originalartikel ist auf Der Standard zu finden.