von Botschafter Álvaro Albacete, Stellvertretender Generalsekretär von KAICIID
Die Vereinten Nationen feiern ihr 75-jähriges Bestehen und der multilateralen Diplomatie kommt mehr denn je enorme Bedeutung zu.
Schon seit der Gründung der UNO beeinträchtigen systemische politische, wirtschaftliche, soziale und ökologische Probleme das Wohlergehen der Menschheit. Die UNO verkörpert den multilateralen Ansatz für menschliche Entwicklung, doch das Coronavirus hat die genannten Probleme um ein Vielfaches verstärkt.
Beim Streben nach Entwicklung ist ein Widerspruch erkennbar. Einerseits sind wir mit globalen Trends konfrontiert, die systematische Antworten durch multilaterale Zusammenarbeit erfordern. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Fragmentierung der internationalen Ordnung. Die involvierten Personen stehen einer solchen internationalen Zusammenarbeit zunehmend skeptisch gegenüber.
Die Vereinten Nationen haben in diesem Bereich einzigartigen Einfluss auf die Welt. Die UNO ist wichtiger denn je, um neue Impulse für multilaterale Zusammenarbeit zu geben. Diese soll ein breites Spektrum abdecken, einschließlich Regierungen, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft.
Wir haben erlebt, welche tiefgreifenden Auswirkungen Krisen wie die COVID-19-Pandemie auf internationaler, regionaler und lokaler Ebene haben können. Solche Krisen verstärken systemische Schwächen in der Infrastruktur der internationalen Zusammenarbeit. Sie verschärfen bestehende Schwachstellen in Regierungssystemen sowie in den Beziehungen zwischen den Gemeinschaften. Außerdem verstärken sie Missstände sowie soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten auf der ganzen Welt.
Der Gesellschaftsvertrag zwischen den Staaten und ihren Bevölkerungen droht weiter zu erodieren. Dies führt zu Frustration und einem zunehmenden Bedürfnis, Schwachstellen und Lücken zu füllen. Gesellschaften auf der ganzen Welt haben mit unzureichenden Reaktionen auf die aktuelle Pandemie zu kämpfen. Verwundbare und von Konflikten betroffene Gesellschaften leiden verstärkt unter der Situation. Der Gesellschaftsvertrag sowie das Vertrauen zwischen religiösen und ethnischen Gruppen werden weiter geschwächt und die Möglichkeiten für Dialog und Zusammenarbeit sind merkbar weniger geworden. Die systemische Diskriminierung wird durch die zunehmende Armut noch verstärkt. Dadurch wird das Leiden der Menschen verschlimmert und Misstrauen sowie Hassrede nehmen zu. Diese Zustände führen häufig zu Gewalt. Die Pandemie ist außerdem eine Erinnerung an die drohenden Risiken, die durch den Klimawandel und durch ihn verursachte Katastrophen entstehen.
Sozioökonomische Probleme werden sich auf den Frieden und nachhaltige Entwicklung auswirken. Gemeinsame und zielführende Antworten auf die drängenden Herausforderungen sind der Schlüssel zur Linderung der negativen Folgen.
Dieses Bemühen kann durch den konstruktiven Beitrag religiöser Führerinnen und Führer sowie religiöser Organisationen (FBOs) auf der ganzen Welt bestärkt werden. Ihre Zielsetzungen, die in prophetischen und spirituellen Werten verwurzelt sind, können interreligiöse Zusammenarbeit entstehen lassen und diese fördern. Religion und Menschenrechte sollen einander unterstützen und verstärken. Alle Mitglieder einer Gesellschaft sollen eine Stimme haben, unabhängig von Ethnie, Alter, Geschlecht, Religion oder anderen Identitätsfaktoren.
Multilaterale, zwischenstaatliche Organisationen wie das Internationale Dialogzentrum (KAICIID) können einen Beitrag zur globalen Agenda 2030 leisten und die UNO bei der Ausweitung von Multi-Stakeholder-Partnerschaften unterstützen. Gemeinsam können wir die wachsende Gemeinschaft vielfältiger, aber gleichgesinnter Persönlichkeiten mobilisieren und unterstützen. Auf dieser Grundlage eines menschenzentrierten Ansatzes wollen wir nachhaltige und integrative Entwicklung erreichen.
Eine der Hauptvoraussetzungen für nachhaltige Entwicklung ist Frieden. Umgekehrt braucht es für Frieden nachhaltige Entwicklung. Religiöse Führerinnen und Führer haben diese gegenseitige Abhängigkeit erkannt. Sie helfen lokalen Gemeinschaften, um deren Lebensgrundlage zu fördern. Sie leisten Hilfe, ermöglichen formelle als auch informelle Bildung und dienen als zentrale Anlaufstellen für die Verbreitung von Botschaften des Friedens und der Versöhnung.
Der einzigartige Wert von FBOs und ihr Beitrag zu globalen Entwicklungsbestrebungen wurden von der UNO durch die Einrichtung der UN Interagency Task Force on Religion and Sustainable Development (UN IATF) im Jahr 2010 institutionalisiert. Dieser übergreifenden Arbeitsgruppe gehören heute mehr als 20 Einrichtungen der UNO an. Sie bietet politische Leitlinien für die Arbeit an den Schnittstellen von Religion und den UN-Säulen Entwicklung, Menschenrechte, Frieden und Sicherheit. Im Jahr 2018 gelang der IATF mit der Einrichtung des Multireligiösen Beirats (MFAC) ein weiterer wichtiger Schritt. Der MFAC ist eine informelle und ehrenamtlich tätige Einrichtung, die in den Themenbereichen des UN-Mandats tätig ist. Mehr als 40 religiöse Persönlichkeiten und FBOs unterstützen die Arbeit der IATF. KAICIID hatte zwischenzeitlich den Vorsitz des Beirats inne.
Aktuell wird "Distanz" zunehmend als "Sicherheit" verstanden. Wir müssen daher hart daran arbeiten, eine Normalisierung der Isolation zu vermeiden. Ansonsten würde der Multilateralismus darunter leiden und weiter fragmentiert werden. Dialog spielt bei der Überwindung dieser neu entstandenen Gräben eine wichtige Rolle. Dialog kann uns einander wieder näherbringen und für unser Gemeinwohl sorgen.
Regierungen und die Zivilgesellschaft, einschließlich religiöser Akteurinnen und Akteure, können in Zeiten globaler Polarisierung gemeinsam für die menschliche Entwicklung einstehen. Mit mutigen Schritten und Dialog können sie bestehende Probleme überwinden und die Zukunft gestalten.
Doch mit der Gelegenheit kommt auch die Verantwortung. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die multilaterale Diplomatie stärken und zur Friedenskonsolidierung und für den sozialen Zusammenhalt nutzen. Gleichzeitig gilt es, Individuen und Gemeinschaften ein starkes Verantwortungsgefühl zu signalisieren. Sie sind es, die "die Völker" bilden, die vor 75 Jahren in San Francisco ein historisches Dokument unterzeichnet haben - die Charta der Vereinten Nationen.