Pater Andreas Kaiser leitet seit dem Jahr 2009 die katholische Pfarrgemeinde Ober St. Veit im 13. Wiener Gemeindebezirk. Er sprach mit KAICIID über den Online-Gottesdienst in Zeiten von COVID-19, die Wiederentdeckung des Glaubens, das Finden Gottes in den eigenen vier Wänden und wie sich die aktuelle Situation auf seine sehr aktive Kirchengemeinde am Stadtrand von Wien ausgewirkt hat.
Wie schaffen Sie es in Zeiten von COVID-19 mit den Mitgliedern Ihrer Kirchengemeinde in Kontakt zu bleiben?
Diese Pandemie hat große Veränderungen für die ganze Welt mit sich gebracht, auch für unsere Arbeit in dieser Kirchengemeinde. 2.000 Jahre lang haben wir als Christinnen und Christen unsere Missionsarbeit „von Angesicht zu Angesicht“ verfolgt. Auf diese Weise verbreiten wir unseren Glauben, bringen Menschen zusammen und inspirieren sie. So ist es seit der Auferstehung Jesu Christi immer gewesen. COVID-19 hat all das verändert. Wir mussten uns einen Weg überlegen, wie wir die Menschen erreichen und einen regelmäßigen Austausch mit den Mitgliedern unserer Gemeinschaft pflegen können, während wir sie gleichzeitig physisch auf Distanz halten. Einerseits tun wir dies, indem wir unsere analogen, also „offline“ Netzwerke nutzen - wir rufen die Menschen an, wir schicken ihnen Briefe, wir fragen, wie es ihnen geht, ob sie Hilfe brauchen, und so weiter. Außerdem haben wir begonnen, digitale Gottesdienste anzubieten und wir nutzen soziale Medien als Plattformen für zwischenmenschliche Kontakte.
Wie bewerkstelligen Sie das infrastrukturell? Machen Sie das alles selbst oder haben Sie Unterstützung?
Unsere Pfarre ist zum Glück sehr breit aufgestellt. Wir haben viele Menschen, die bereit sind und sich freuen, ihr Wissen und Talent einbringen zu können. Ich muss zugeben, dass ich schon froh bin, wenn ich es schaffe, mein Smartphone richtig zu bedienen (lacht). Ich bin sehr froh, Menschen in meiner Gemeinde zu haben, die mich unterstützen. Seit dem ersten Tag des „Shutdowns“, als die Gottesdienste in den Kirchen untersagt wurden, bieten wir über unseren Kanal auf YouTube eine live übertragene Messe an. Über 2.100 Menschen aus ganz Österreich haben unsere Ostermesse am Ostersonntag verfolgt. Einige unserer Zuschauerinnen und Zuschauer kamen auch aus dem Ausland, wie zum Beispiel aus Polen, den Philippinen und Luxemburg.
Sind diese Menschen Österreicherinnen und Österreicher, die das Land verlassen haben, vielleicht Expats, die im Ausland arbeiten?
Ja, das sind sie meistens. Jene, die unseren Gottesdienst von irgendwo auf der Welt streamen, freuen sich einfach, ihre alte Pfarre in Ober St. Veit wiederzusehen. Viele von ihnen haben eine Art persönliche Verbindung zur Kirche, zum Pfarrer oder zum Kaplan. Wir erwägen nun, unseren Streaming-Service auch nach dem Ende dieser Krise fortzusetzen. Vielleicht nicht mehr jeden Sonntag, aber zumindest an den großen katholischen Feiertagen.
Wie viele Menschen dürfen derzeit für den Gottesdienst in die Kirche kommen?
Fünf Personen. In Übereinstimmung mit den Vorschriften der österreichischen Regierung haben wir von der Österreichischen Bischofskonferenz die Anweisung erhalten, den Gottesdienst mit maximal fünf Personen zu feiern. Wir halten uns klarerweise an diese Regelung. Bei der Ostermesse zum Beispiel waren der Kaplan, die Mesnerin, der Organist, ein Techniker und ich in der Kirche anwesend, sonst niemand.
Wie erreicht man ältere Menschen, die womöglich keine "Digital Natives" sind?
Die älteren Menschen in unserer Kirchengemeinde sind sicherlich sehr schwer zu erreichen, auch wenn es einige gibt, die einen Laptop besitzen und sich im Internet gut zurechtfinden. Diese Menschen müssen auf dem traditionellen Weg kontaktiert werden, per Telefon oder per Brief. Dafür ist unser bisheriges analoges Netzwerk, das ich vorhin erwähnt habe, gut geeignet. Aber für die jüngeren Generationen gibt es dank der sozialen Medien viel, was getan werden kann. Wir sehen, dass die Zahl der Besucherinnen und Besucher, die online mit dabei sind, deutlich gestiegen ist.
Glauben Sie, dass in dieser schwierigen Zeit viele Menschen ihren Glauben wiederentdeckt haben, auch Menschen, die sonst nicht in die Kirche gehen würden?
Ja, ich bin davon überzeugt, dass dies der Fall ist. Ich weiß nicht, ob sie ihren Glauben in einer Religionsgemeinschaft oder in der Kirche selbst wiederentdeckt haben. Das ist etwas, das ich nicht beurteilen kann, aber es ist auch nicht relevant. Ich bin ziemlich oft in der Kirche und ich habe bemerkt, dass viele Menschen tagsüber herkommen, um eine Kerze anzuzünden oder um zu beten.
Wir haben eine "Fürbittenbox" eingerichtet, in der die Gläubigen ihre Fürbitten entweder im Kirchengebäude selbst oder virtuell, per E-Mail oder über unsere Website hinterlegen können. Ich stelle mit Freude fest, dass die Zahl der Fürbitten, die wir erhalten, viel höher ist als vor der Krise.
Ich glaube, dass in dieser schwierigen Zeit viele Menschen Hoffnung, Führung und Unterstützung suchen. Ich glaube auch, dass sie all das in der Religion finden können und ich bin überzeugt, dass sie es im Christentum finden können. Wenn die Kirchen heutzutage etwas anbieten können, das den Menschen Hoffnung und Stabilität gibt, dann haben wir unseren Auftrag erfüllt, davon bin ich überzeugt.
Die Menschen haben momentan einfach sehr viel Zeit zum Nachdenken. Und ich glaube, wenn man Zeit zum Nachdenken hat, kommt man unweigerlich an einen Punkt, an dem man sich die „drei Grundfragen des Lebens“ stellt, wie der österreichische Kardinal Franz König immer gesagt hat: Wo komme ich her? Wohin gehe ich? Was ist der Sinn des Lebens?
Stimmt es, dass Ihre Kirchengemeinde die Gläubigen einlädt, Fotos zu schicken, und dass Sie diese dann auf die Kirchenbänke kleben? Wie kam es dazu?
Das stimmt. Es geht darum, dieses Gefühl der Zugehörigkeit und sich mit etwas zu identifizieren aufrechtzuerhalten. Die Menschen, die normalerweise hierher in die Kirche kommen und den Gottesdienst gemeinsam feiern, sollen sehen: „Ich bin selbst nicht da, aber zumindest mein Bild ist da“. Zur Zeit feiere ich die Messe fast alleine, deshalb ist es für mich auch schön, all diese bekannten Gesichter zu sehen, wenn ich durch die Reihen gehe. Wir haben etwa 320 Fotos erhalten und sie sind alle an den Kirchenbänken angebracht worden. Wir haben jetzt mehr Fotos von Menschen in der Kirche als Besucherinnen und Besucher an einem normalen Sonntag (lacht). Diese Idee ist von vielen anderen Gemeinden aufgegriffen worden. Im Stephansdom wird das mittlerweile auch gemacht. Aber die Idee stammt nicht ursprünglich von uns, das muss ich dazu sagen. Wir haben uns von einer Pfarre in Spanien inspirieren lassen.
Spüren Sie, dass auf eine gewisse Art der physische Kontakt in Ihrer Kirchengemeinde fehlt?
Expertinnen und Experten sagen immer wieder, dass es klug und notwendig ist, jetzt Abstand zu halten, was ich voll und ganz teile, weil es ganz einfach wichtig ist. Sonst würden sich das Virus und die Krankheit COVID-19 weiter ausbreiten. Die gegenwärtige Situation macht jedoch etwas mit uns. Wir meiden einander und es ist nur logisch, dass wir das tun. Aber wann immer wir hier in der Kirche Beerdigungszeremonien abhalten, dürfen sich die wenigen Anwesenden nicht berühren. Das ist für alle Beteiligten sehr belastend.
In schwierigen Situationen wollen Menschen einander umarmen, sie wollen einander Halt geben, aber im Moment ist das leider nicht möglich. In Zukunft wird die Art und Weise, wie wir Zuneigung zeigen, wie wir miteinander in Kontakt treten, anders sein müssen als bisher, denn das alles – die aktuellen Einschränkungen – wird uns noch viel länger begleiten. Es wird auch die Art und Weise beeinflussen, wie wir die Messe am Sonntag feiern. Es wird schwierig für uns sein, neue Wege und Möglichkeiten zu finden, einander nahe zu sein und unsere gemeinsamen Bindungen und unser Gefühl der Zusammengehörigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Welche anderen Dinge bieten Sie den Mitgliedern Ihrer Kirchengemeinde in dieser beispiellosen Krise an?
Wir haben eine Menge Material für Gläubige und Interessenten auf unsere Website hochgeladen, zum Beispiel Gebetstexte für Erwachsene und Kinder und Ratschläge, wie man die Messe zu Hause feiern kann. Vor einigen Tagen habe ich eine Karikatur erhalten, die Gott und den Teufel zeigt. Der Teufel sagt zu Gott: „Siehst du, ich habe dieses Virus geschickt, und jetzt sind alle Kirchen geschlossen“. Gott antwortet: „Aber im Gegenzug habe ich in jedem einzelnen Haus eine Kirche eröffnet“. Ich finde diese Karikatur wunderschön. Vor hundert Jahren war es durchaus üblich und weit verbreitet, als Familie in so genannten „Hauskirchen“ zu beten. Ich glaube, dass uns das stärken kann – zusammen zu sitzen, zu beten, aus der Bibel zu lesen, als Familie zu meditieren und nachzudenken. Diese Rituale wieder zu entdecken, ist etwas, das die Familienbeziehungen auf Dauer stärken kann.