Auf dem Höhepunkt der Safran-Revolution in Myanmar im Jahr 2007 schloss sich Harry Myo Lin Tausenden von buddhistischen Mönchen und frustrierten Bürgerinnen und Bürgern in den Straßen von Mandalay an und forderte politische und wirtschaftliche Veränderungen. Es war die erste Begegnung des damals 16-Jährigen mit interreligiösem Aktivismus, nach einer Kindheit, die von interreligiösem Dialog geprägt war.
"Mein Vater war ein konservativer Muslim, meine Mutter eine liberale Muslimin, ich studierte Englisch in einem katholischen Nonnenkloster, und einer meiner besten Freunde war Buddhist", erzählt er. "Ich wuchs in einem von Vielfalt geprägten Viertel von Mandalay auf, in dem Harmonie zwischen den Religionen herrschte.
Diese Harmonie begann in den folgenden Jahren zu bröckeln, als sich das vorwiegend buddhistische Myanmar von der jahrzehntelangen Militärregierung loslöste. Neue Freiheiten brachten neue Herausforderungen mit sich. Lange Zeit war das Land isoliert, nun hatte es plötzlich Zugang zum Internet, und der ungezügelte Strom von Fehlinformationen trug zu einem starken Anstieg der interreligiösen und interethnischen Spannungen bei.
Im Jahr 2012 schürten Fake News und Hassnachrichten, die auf Facebook kursierten, die Gewalt zwischen BuddhistInnen und MuslimInnen im westlichen Bundesstaat Rakhine und ließen Tausende von Vertriebenen und hunderte Tote zurück. Harry suchte Kontakt zu den Mönchen, mit denen er einst protestiert hatte, um Lösungen zu finden, bis er schließlich zwei Monate lang in ihrem Kloster lebte, während sie einen Plan ausarbeiteten.
"Wir waren uns einig, dass wir zusammenarbeiten müssen, um Gewalt zu verhindern", berichtet Harry. "Diese Mönche waren für mich ein lebendiges Beispiel dafür. Sie behandelten mich mit solcher Güte und inspirierten mich dazu, mein interreligiöses Engagement voranzutreiben."
Im Jahr 2013 gründete Harry eine geheime Facebook-Gruppe, um die Online-Verbreitung gefährlicher Fake News in Myanmar zu bekämpfen. Die Mitglieder der Gruppe überprüften falsche Gerüchte und verteilten genaue Informationen an religiöse und kommunale Führerinnen und Führer, um die Sachlage zu klären und die Spannungen abzubauen.
Die Notwendigkeit dieser Gruppe wurde in jenem Jahr auf tragische Weise bestätigt, als bei den Zusammenstößen in Meiktila mehr als 40 Menschen getötet wurden. Diese Ereignisse so nahe bei Mandalay inspirierten Harry dazu, "Die Möwe: Menschenrechte, Frieden und Entwicklung" zu gründen, eine Gruppe von interreligiösen FührerInnen und AktivistInnen, die sich gemeinsam für die Förderung des Dialogs und den Schutz der Religionsfreiheit einsetzen. "Die Möwe" wurde in Meiktila tätig, um die Vergehen zu dokumentieren, die während der antimuslimischen Unruhen stattgefunden hatten, und um die angespannten Gemeinschaften zur Versöhnung zu ermutigen. Harry wurde für diese Arbeit gelobt, aber auch schikaniert und bedroht.
"Während eines Trainings der "Möwe" für buddhistische Mönche und Nonnen warfen mir mehrere ultranationalistische Bürgerinnen und Bürger vor, dass ich versuche, Buddhistinnen und Buddhisten zum Islam zu bekehren. Sie drangsalierten mich und zwangen mich, das Training abzubrechen. Daraufhin musste ich eine Woche lang untertauchen", erinnert sich Harry.
Fotos von Harry mit buddhistischen Freundinnen und Freunden wurden mit Kommentaren wie "Muslime wie er sollten getötet werden" veröffentlicht.
Harry weiß, dass die lautesten und schlimmsten Hassnachrichten in Myanmar sich oft gegen Musliminnen und Muslime, andere religiöse und ethnische Minderheiten, Frauen und Angehörige der LGBTQIA-Community richten.
Harry schloss sich im Jahr 2014 der Panzagar-Bewegung ("Blumen-Rede") an, um Hassnachrichten gegen diese und andere verfolgte Gruppen im Land entgegenzuwirken. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nehmen Blumen in den Mund, um ihr Engagement für die Verbreitung der "richtigen Rede" zu symbolisieren und gegen gefährliche Unwahrheiten vorzugehen, die von Mensch zu Mensch und über groß angelegte öffentliche Medienkampagnen verbreitet werden.
Nachdem er mehrere Jahre lang das Religionsfreiheitsprogramm von Freedom House koordiniert und am "Institut für politisches und bürgerliches Engagement" Konflikttransformation unterrichtet hat, ist Harry nun als KAICIID-Länderexperte in Rangoon tätig. In dieser Funktion unterstützt er die Paungsie-Metta-Initiative (PMI), ein multireligiöses Netzwerk von buddhistischen, christlichen, hinduistischen und muslimischen Glaubensführerinnen und Glaubensführern sowie Organisationen der Zivilgesellschaft, die durch interreligiöse Schulungen, interreligiöse Foren, Veranstaltungen für einen inklusiven Dialog und Friedensfeiern die Harmonie fördern.
"Vor KAICIIDs Engagement hörten die lokalen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger nicht die Stimmen der religiösen Führerinnen und Führer. Jetzt, wo wir nationale Netzwerke aufbauen und diese Gruppen zur Strategiebildung zusammenbringen, können wir auf einen langfristigen Strukturwandel hinarbeiten", berichtet er.
Die PMI hat bereits mehr als 3.000 religiöse FührerInnen und VertreterInnen der Zivilgesellschaft zu Schulungsworkshops eingeladen, die auf die Milderung von Konflikten und die Förderung des sozialen Zusammenhalts abzielen. Harry baut jetzt ein Zentrum für interreligiösen Dialog auf, das intensive Konflikttransformationskurse für Jugendliche und GlaubensführerInnen veranstalten und ihnen beibringen wird, wie sie soziale Medien zur Bekämpfung von Online-Hassrede nutzen können.
"Die Befähigung religiöser Führerinnen und Führer, soziale Medien auf positive Weise zu nutzen, schafft neuen Raum für den Dialog", so Harry. "Indem sie die grundlegenden Prinzipien ihrer Religionen fördern, können sie dem Missbrauch des Glaubens als Mittel der Gewalt entgegentreten und die Idee eines vereinten Myanmars fördern, das für alle gleich ist und alle willkommen heißt."
Die Facebook-Seite des PMI verbreitet positive Botschaften an Tausende von Anhängerinnen und Anhängern, da Harrys geheime Facebook-Gruppe weiterhin nur hinter den Kulissen arbeitet, um die Gewalt zu stoppen, bevor sie beginnt.
"Als vor kurzem ein muslimischer Mann beschuldigt wurde, eine buddhistische Frau im nördlichen Bundesstaat Shan vergewaltigt zu haben, wandte sich unsere Gruppe an lokale Führerinnen und Führer in der Region, um auf Aufrufe zur Gewalt gegen Musliminnen und Muslime zu reagieren und sicherzustellen, dass die lokalen Behörden den Mann verhaften. Dies half, eine Eskalation der Situation zu verhindern", erklärt er.
Fake News und Online-Diskriminierung von Minderheiten bleiben die größten Herausforderungen in Myanmar. Unter Harrys Führung arbeiten die lokalen religiösen Führerschaften härter als je zuvor daran, Fehlinformationen zu unterbinden und die Gewalt zu beenden. Er hofft, dass das PMI Regierungsbeamte sowie Politikerinnen und Politiker dazu ermutigen wird, dasselbe zu tun. Er kämpft nun mit neuem Elan und widmet seine Arbeit seiner kleinen Tochter.
"Wann immer ich an die Diskriminierung religiöser Minderheiten in Myanmar denke, mache ich mir Sorgen um die Generation meiner Tochter," sagt Harry nachdenklich. "Wir müssen unser Trauma des Lebens unter der Militärregierung überwinden, aber wir müssen auch die bestehenden Probleme zu unseren Lebzeiten lösen, damit unsere Kinder ein besseres Leben führen können."